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Grenzenlos/Wildbahn

Neues aus dem sibirischen Weltall

Posted by Sascha Preiß on

Begeben wir uns einmal in die Welt der Wunder. Russland ist ja nun ziemlich groß bzw „unsinnig groß“ (Daniel Kehlmann). Groß genug auf jeden Fall, dass die Wahrscheinlichkeit, in Russland Landungen von Außerirdischen beobachten zu können, deutlich (unsinnig) größer ist als etwa in den USA, obwohl es dort nach Einschätzung der Filmproduzenten beinah täglich der Fall ist. Aber auch Russland bzw die (noch viel unsinnig größere) Sowjetunion ist reich an Sichtungen unbekannter Flugobjekte und/oder wundervollen Phänomenen, die mit der Anwesenheit erdferner Lebenwesen erklärt wurden. Vorzugsweise tauchten UFOs in Moskau auf oder das ganze Land wurde außerirdisch infiziert; relativ viel diskutiert in UFO-Fachkreisen ist die Sichtung von Woronesch, die angeblich auch offiziell bestätigt wurde, einen Monat vor dem Fall der Berliner Mauer.

Nun ist es aber so, dass sich auch in den unendlichen Weiten Sibiriens hin und wieder Außerirdische den Hobbyfotografen zeigen. Die jüngste Sichtung eines UFO-Absturzes fand Anfang März 2011 ganz in der Nähe des Baikalsees bei Irkutsk statt. Die Anwohner mehrerer Dörfer waren durch Licht, Knall und Geruch derart irritiert, dass sich schließlich der Katastrophenschutz um die Sache kümmern musste. Auch wenn bei der Suche erwartbarerweise nicht allzu viel Sinnvolles zum Vorschein kam, das mit Außerirdischen zu tun gehabt hätte – ein YouTube-Video brachte ordentlich Schwung in die rasch abebbende Aufregung: Darin zu sehen ist ein überhaupt nicht großes, sondern zerbrechlich kleines, offenbar durch den Absturz letal verletztes Alien, das eigentlich niedlich wirken könnte, wenn es nicht leicht nach gegrilltem Hühnchen aussähe. Das Video bzw das Alien ist bis heute knapp 10 Millionen mal angeschaut worden. Der Film ist selbstverständlich nur ein netter Schülerstreich, der kleine Außerirdische besteht eben wirklich u.a. aus Hühnerhaut. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn es so ein Knirps quer durch die Galaxien (per Anhalter?) bis an den Baikal geschafft hätte. Ob er die Region dann ebenfalls mit Natur und Erholung assoziieren würde, ist eine andere Frage.

Und das ist der Unterschied zwischen Russland und den USA: was im wahnsinnig großen Russland als Handyfilm im Internet endet, wird dort unsinnig gewaltig auf die Leinwände der Multiplexsäle projeziert. Dabei fände ich es mal einen interessanten Versuch, einen Alien-Film aus Sicht der russischen Provinz zu erzählen.

– Hast du gehört, die haben ein Alien gefunden.

– Sowas kommt vor.

– Das soll nur so groß wie ein Hühnchen sein.

– Zu klein für guten Schaschlik.

– Vor allem Kopf und Leber sollen enorm groß sein.

– Den trink ich trotzdem untern Tisch.

– Und was, wenn es viele von denen gibt, sie sich hier vermehren und bleiben wollen?

– Gegen unsere Bürokratie haben die keine Chance.

(etc)

minimal stories/Statistik/Ulica/Universität

Postsowjetische Numismatik

Posted by Sascha Preiß on

Seinerzeit, damals, davnym-davno war Mathematik die Königsdisziplin sowjetischer Hochschulen, Kopfrechnen, Algebra, Analysis, Geometrie – seit Beginn der modernen Wissenschaften in Russland unter Peter I. zählte Mathematik zu den Kerndisziplinen der Naturwissenschaften, nur noch übertroffen von der Kunst des Schachspiels. Das goldene Zeitalter der russischen Bildung ist leider längst vorbei, und manchmal scheint man auch ein bisschen zu verstehen, wie grundlegend sich seither der Wille zur Mathematik, an der jeder Sowjetbürger getreu Lenins Auftrag schon im Alltag teilhatte, gewandelt hat. Gestern stolperte ich tatsächlich über eine aus dem Fugenschmutz der Gehwegplatten schimmernde sowjetische Münze – im Wert von 15 Kopeken. Meine Bewunderung für das sowjetische Bildungssystem war umfassend.

Halbe Münzwerte, in der überwiegenden Mehrzahl als 50/100el einer Dezimalwährungshaupteinheit wiedergegeben (z.B. 50 Pfennig, aber auch 1/2 franc †), sind in Europa und weiten Teilen der Welt ebenso gewöhnlich wie Viertel-, Fünftel- oder Zehntel-Münzen (Quarter Dollar, 20 Cent, 10 Lipa). Dass man jedoch auf die Idee kommen könnte, eine Münze im Wert von Drei-Zwanzigstel der Hauptwährung zu entwerfen (zzgl. eines 3-Kopeken-Stücks, also ein Fünftel des Drei-Zwanzigstel-Stückes, das mir bislang aber noch nicht auf den Irkutsker Straßen begegnet ist), ist in der Tat höhere Alltagsmathematik.

Dass es nach dem Ende der Sowjetunion mit der Volksbildung rapide abwärts gehen muss, lässt sich ohne weiteres an den einfallslosen Währungsunterteilungen des russischen Rubel ablesen: Es gibt lediglich 1er und 5er-Teilungen, beginnend von einer und fünf Kopeken (die aber im realen Zahlungsverkehr keine Rolle spielen, statt dessen bei Hochzeiten als „echtes Konfetti“ Verwendung finden), zehn und fünfzig Kopeken, einem und fünf Rubel etc. Einzige Ausnahme aufgrund des häufigen Gebrauchs: die Zwei-Rubel-Münze. Bei soviel numismatischer Ödnis kann das postsowjetische Hirn wahrlich zu keinerlei intellektueller Leistung herausgefordert werden. Doch die Vereinfachung des Währungssystems hat auch pragmatische Gründe, denn bei aller Liebe zur Mathematik sind Kopfrechnenkenntnisse nicht überzubewerten. Denn schließlich gilt: Es gibt keinen Nobelpreis für Mathematik.