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Sprache/Universität

Brief an die deutschen Wirtschaftsprüfer

Posted by Sascha Preiß on

Heute habe ich Post bekommen. Bei meiner Arbeit bekommt man durchaus häufiger mal Post. Manchmal auch handgeschrieben oder sogar persönlich überbracht. Letztes Jahr zu Weihnachten klopfte ein Mädchen an meine Tür und gab mir verstohlen-aufgeregt eine kleine Tüte. Ich hatte das Mädchen noch nie gesehen. Sie sagte in gebrochenem Deutsch, dass sie hoffe, es möge mir gefallen, und ging. In der Tüte waren ein Paar Handschuhe, selbstgestrickt, in den Deutschlandfarben und stark parfümiert. Ich weiß bis heute nicht, wie ich ihr hätte danken können.

Die heutige Post kam schon vor einigen Tagen elektronisch. Eine betrefflose Mail mit Anhang im docx-Format, das landet notwendig erst einmal in der Postfach-Sülze. Trotzdem hab ichs rausgefischt und geöffnet. Die docx-Datei ist auf russisch „an die deutschen Wirtschaftsprüfer“ genannt:

Guten Morgen, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit freundlichen Grüßen Sie aus ein Student der Fakultät „Accounting und Audit“ der Baikalsee staatliche Universität für Wirtschaft und Recht Alexej Stepanowitsch Chudjakow*. Einer These schreibe über die Prüfung, ich eine der Verzweigungen „Audit History in Deutschland“, übergeben die Prüfung auf Deutsch, und wir wollen nicht mit deutscher Wissenschaftler in der Buchhaltung zu sprechen kommen und Überwachung, sollten von der deutsche Professor eingeladen werden

Ich bin zwar ein wenig in Sorge wegen der „Überwachung“, dennoch fand ich diese Post aus irgendeinem Grund bemerkenswert. Die Ermittlungen, worum es sich handelt, sind angelaufen.

(*Name geändert.)

Liljana

Salto vom Fensterbrett

Posted by Sascha Preiß on

Und dann hat Lili heute einen Salto vom Fensterbrett gemacht. Jetzt ist ihr Arm genauso in Gips, wie der unseres Kindermädchens. Es muss ja rückblickend nicht alles zum Omen aufgewertet werden. Aber schon die Frau vom Fluglinienbüro, bei der ich die Flugtickets Irkutsk-München noch bezahlen musste, war während ihrer Arbeitszeit abwesend. Im Krankenhaus, sagte ein Mitarbeiter. Nach einer halben Stunde kam sie wieder – humpelnd. Unser Kindermädchen ist vor einer Woche Opfer des Irkutsker Tauwetters geworden. Und im Januar erzählte der Besitzer der kleinen Tourbasa in Bolshoe Goloustnoe freudestrahlend, dass sich sein Söhnchen mit einem Jahr das Bein auf der Treppe gebrochen habe, auf der Lili auf- und abturnte. Alles nicht so schlimm, findet er. Recht hat er. Lili mag ihren Gips zwar überhaupt nicht, weil er sie in ihrem Bewegungsdrang enorm einschränkt, aber in zwei Wochen ist er ja wahrscheinlich schon wieder runter.

Unterhaltsam auch der Besuch in der Kinderunfallstelle. Einerseits ist für Kleinkinder die Versorgung zwangsweise kostenlos, niemand will von uns irgendeinen Rubel haben, den wir sehr gern zahlen möchten. Aber die freundliche Sekretärin hat dennoch abgelehnt, wohl auch weil sie davon überfordert war, dass ernsthaft jemand in Russland freiwillig Geld zahlen möchte. Während Sekretärinnen also freundlich zu jedermann sind, dürfen die Ärzte einfach Mensch sein. Die Dame am Röntgenapparat sprach sehr laut und – sagen wir einmal: schnörkellos auf das minutenlang heulende Kind ein, dass halbnackt auf der kalten Pritsche festgebunden lag, den schmerzenden Arm ausgestreckt zur Durchleuchtung. Und weil die ersten Bilder nicht so recht gelangen, drehte sie den Arm noch ein bisschen hierhin und dorthin. Dass das Kind sich davon nicht beruhigen ließ, machte sie der an die Seite geschobenen Mutter eindringlich zum Vorwurf. Aber die neuen Aufnahmen waren dann ausreichend. Die Augen des als nächstes an die Reihe kommendenden Kindes, das sich im niedrigen, schmalen, gelbgrau gefärbten Gang der Kinderklinikkatakomben an ihre Mama klammerte, hatten währenddessen alle Ausdrücke von Angst und dunkler Vorahnung durchlebt, als die Tür zum Röntgenkabinett aufging. Und tatsächlich unterschieden sich die Geräusche hinter der Eisentür nicht von Lilis Weinkrampf. Dass für die schlechte Bezahlung von Klinikärzten nicht die Patienten verantwortlich sind, zumal wenn die auch noch zahlen wollen, muss ja kein Grund sein, sie nicht trotzdem spüren zu lassen, wie miserabel die Situation ist.

Lili hat, nachdem sie wieder zu Hause war, gleich wieder geweint. Weil sie mit ihrem Gipsarm nicht schaukeln oder auf die Tische klettern kann. Zur Beruhigung sollte ich ihr Lieblingsbuch der letzten Wochen vorlesen: Igelin Paula Stich hat sich den rechten Arm gebrochen und wird von ihren Freunden mit einer Geburtstagsfeier getröstet. Trotzdem unterstelle ich meiner anderthalbjährigen Tochter keinerlei strategisches Handeln.

minimal stories/Ulica

0,01% der Reisezeit

Posted by Sascha Preiß on

Der Reisende, mit der Straßenbahn auf dem Weg zum Bahnhof, von dort weiter ins 5200km entfernte Moskau, wurde von seinem müden Blick auf die morgendliche Stadt durch eine hektische Bewegung in Kopfhöhe abgelenkt. Eine Kohlmeise hatte sich auf ihrem Weg zur anderen Straßenseite an der Haltestelle durch eine offene Tür in den Waggon verflogen, suchte nun an den Fenstern einen Weg hinaus. Der Reisende sah dem irrenden Vogel gleichgültig-interessiert aus den Augenwinkeln zu, wie dieser nach 5 Sekunden durch eine zweite offene Waggontür hinausflog und sich zur Erholung vom Schreckmoment in wohl jenen Baum setzte, von dem er losgeflogen war.  Als die Bahn anfuhr, wendete sich der Mann wieder seiner Morgenmüdigkeit zu. Er hat ein wenig mehr als 0,01 Prozent seiner gesamten Reisezeit für den Seitenblick auf den Vogel verbraucht.

(nach Alexander Kluge)