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minimal stories/Ulica

minimal story 12

Posted by Sascha Preiß on

Ich hatte den Koffer, in dem wir einige ausrangierte Kleidungsstücke aufbewahrten, mit reichlich Papierabfällen aufgefüllt und in den Müllcontainer geworfen. Aus Nostalgiegründen hatte ich vorher noch einmal die nicht mehr genutzte Kleidung durchgesehen und mich zu erinnern versucht, warum ich z.B. dieses T-Shirt, das einmal ein Geburtstagsgeschenk war, nicht mehr tragen wollte. Aus irgendwelchen Gründen passte ich nicht mehr hinein oder es zu mir. Dass es wohl immer noch ganz gut aussehen kann, wurde mir erst wieder bewusst, als der Mann mit dem Kinderwagen am Zigarettenkiosk jenes Shirt trug. Oder wenigstens sah es meinem alten verwirrend ähnlich. Der Mann lachte das Baby im Kinderwagen an. Es machte nicht den Anschein, als würde er seine Nachmittage mit dem Durchstochern von Müllcontainern verbringen. Andererseits schien er, ausgehen vom Rest seiner Kleidung, nicht allzu wohlhabend zu sein. Ich mochte mir vorstellen, dass er ein bisschen stolz und glücklich über den gut erhaltenen Fund sei und daher fröhlicher als sonst. Dabei hatte ich ihn noch nie gesehen. Ich bemerkte, dass ich ihn taxierte, wandte mich ab und lief beschämt weiter. Es war eben auch möglich, dass schlicht zweimal das gleiche Shirt in direkter Nachbarschaft existiert hatten, und mir fiel das nur in diesem seltsamen Zusammentreffen auf.

– Sie meinen, die anderen Kleidungsstücke hätten auch noch auftauchen müssen?
– Vielleicht. Aber die Container waren zwischenzeitlich geleert worden.
– Wäre die Wiederkehr etwas Anderen aus dem Koffer, ein Hemd, eine Seite aus einer deutschen Zeitung, ein Beweis gewesen?
– Nein. Auch wenn es die Vermutung wohl gestärkt hätte. Ich war froh, nichts anderes wiederzusehen.
– Warum?
– Um den Alltag nicht als Anhäufung von Verdachtsmomenten erleben zu müssen. Was interessierte mich, woher jemand seine T-Shirts hatte.

Das Wetter/Ulica

Ein Hochlicht

Posted by Sascha Preiß on

Seit dem letzten Eintrag in diesem Blog ist eine ganze Menge Zeit vergangen. Wer sich seither gefragt hat,  was alles geschehen ist, wird in Kürze einige Berichte finden, u.a. waren wir in Deutschland und sind seit wenigen Tagen wieder zurück in Irkutsk.

Viel Zeit ist auch seit der letzten Auflösung von Modern Talking vergangen, und wer sich gefragt hat, was denn nun eigentlich so der Thomas Anders macht, dann sei er morgen nach Irkutsk eingeladen, wo der in Russland für sein neuestes Album mit Platin geadelte „legendäre Musikant“ (Komsomolskaja Prawda) ein einzigartiges Konzert mit grandioser Show geben wird. Ursprünglich für den 24. Juli vorgesehen, erlebt Thomas‘ Karriere nun doch noch ein weiteres Highlight direkt vor meiner Nase, im wunderschönen „Stadion der Arbeit“.

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Für seinen weiteren Lebensweg wünschen wir alles Gute.

Universität

Etappen einer Erregung

Posted by Sascha Preiß on

Das russiche Verhältnis Dozent zu Student ist eine klare Sache, nur muss man sich deswegen nicht damit abfinden. Ich brauchte für einen Kollegen, der eine Vorliebe für veraltete Lehrtechnik hat, einen Overhead-Projektor. (In modernen repräsentativen Seminarräumen mancher Universitäten befinden sich inzwischen interaktive Leinwände, quasi iPads im dreifachen A0-Format.) Glücklicherweise fand sich ein sowjetischer Polylux noch in der Ecke eines vergessenen Raumes, auch die Lampen taten wie sie sollten, ich konnte ihn haben. Als ich ihn mitnehmen wollte, hielt mich ein Dozentenkollege zurück, das müsse ich nicht tun, er würde statt dessen einen Studenten beauftragen, ihn zu tragen. Ich protestierte etwas, der auserwählte Student aber tat sofort wie geheißen. Anderntags fragte mich eine Kollegin auf dem Weg zum Seminarraum, warum ich denn eine Tasche mit Laptop und eine Tasche mit Beamer tragen würde. Für so etwas habe sie immer ein paar hilfsbereite Studenten in der Nähe. Ich wollte etwas erwidern, aber noch immer hatte ich nicht genügend Empörung angesammelt. Dann aber die Warteschlange. Vor einem der universitätseigenen Imbissstände stehen Studenten, um sich eine Bulotschka oder eine Piroschka zu kaufen. Von irgendwoher rauscht eine Dozentin direkt auf die Pole-Position und ruft der Bedienung ihre Wünsche zu. Da habe ich Luft geschöpft und sie ein bisschen angebrüllt. Sehr wahrscheinlich, dass sie mein Gesicht auf Lebenszeit gespeichert hat, so erschrocken hat sie sich umgedreht, mit solch intensivem Zorn sah sie mich an. Meine Frage, ob es für sie ein Sonderrecht gäbe, alle anderen würden ebenfalls warten, bis sie dran wären, beantwortete sie jedoch nicht, sie zog ohne Ware ab. Die Bedienung sagte dann, sie habe angenommen, ich sei ebenfalls Student, aber sie sehe das genauso und so weiter. Die Studenten in der Schlange schwiegen verkniffen mit geröteten Wangen.

Das Wetter/Irkutsk

Dennoch

Posted by Sascha Preiß on
Irkutsk

Trauerflor

Posted by Sascha Preiß on

Nach der Flugzeugkatastrophe von Smolensk am Samstag hatte Präsident Medwedjew für den heutigen Montag Staatstrauer angeordnet. Das Ereignis im äußersten Westen Russlands hat selbstverständlich auch in Ostsibirien Spuren hinterlassen. Zwar waren die Blumen, die Irkutsker Bürger am polnischen Generalkonsulat niedergelegt hatten, aus Witterungsgründen bereits weggeräumt, doch die Trauerkerze und das Foto des verunglückten Präsidentenpaares am Konsulatseingang wird noch eine Weile bleiben. Gemäß präsidialer Weisung waren alle Fahnen auf öffentlichen Gebäuden auf Halbmast gesetzt oder trugen Trauerflor.

Trauerbeflaggung auf der Irkutsker Duma

Der Gouverneur kondolierte dem polnischen Konsul Krzysztof Csajkofski. In Irkutsk leben etwa 20.000 Polen in verschiedenen Gemeinden, bekannt ist die römisch-katholische Kirche in Nähe des Kirow-Platzes, in der regelmäßig Orgelkonzerte stattfinden. Die Irkutsker polnischen Gemeinden entstanden Mitte des 19.Jhd, als insgesamt etwa 20.000 Polen aus politischen Gründen nach Sibirien verbannt wurden.

Die Anteilnahme der Bevölkerung an der heutigen polnischen Tragödie ist hoch. Manche hat im Gespräch über den Anlass des offiziellen Trauertags Tränen in den Augen. Die Erinnerung an die Flugzeugabstürze der Jahre 1994, 2001 und 2006, bei denen je über 120 Personen ums Leben kamen, sind noch frisch. Russland ist leider nicht arm an verheerenden Flugzeugunglücken, sei es mit der jetzt abgestürzten Tupolew Tu-154 oder mit Flugzeugen anderen Typs. Etwas befremdlich ist der diesjährige Zusammenfall mit staatlichem Trauertag um dem wieder verstärkt gefeierten Tag des Kosmonauten, der in der Sowjetunion zu Ehren Juri Gagarins am 12. April begangen wurde. Bekanntlich war Gagarin an diesem Tag nicht nur erster Mensch im All, sondern wurde wenige Jahre später ebenfalls Opfer eines Flugzeugunglücks.

Interkultur/Kulinarisches

Skepsis

Posted by Sascha Preiß on

Alessandra, eine italienische Freundin, die seit einiger Zeit in Irkutsk lebt und am liebsten hier bleiben möchte, erzählte uns kürzlich von einem neuen Restaurant. Ein wirkliches italienisches Restaurant, schwärmte sie, im Stadtzentrum, das auch der ehemalige Bürgermeister der Stadt unterstützte. Alessandra hatte dessen Sohn dereinst Italienisch-Unterricht erteilt, was dem romanophilen Bürgermeister gefiel, weshalb er sie auch ein wenig unterstützte. Für das neue Restaurant, erzählte sie, habe sie nicht nur bei Ausstattung und Rezepten für die Speisekarte beraten, sondern auch den Namen des Restaurants beigesteuert: Antico Borgo, das alte Dorf. Küche und Einrichtung des Lokals seien daher auch ländlich gehalten, toskanisch, schlicht und ursprünglich, und durchaus nicht immer so, wie man sich italienisches Essen vorstelle. Das beschränkt sich ja im Grunde auf Tiefkühlpizza und Spaghetti Bolognese aus der Dose.

Nun bin ich bereits zwei Mal im Alten Dorf gewesen und reise dort sehr gerne immer wieder hin. In der Tat ein wunderschönes Lokal, in dem man ganz hervorragend essen kann. Beide Male aber war das Restaurant fast vollkommen leer. Die Preise sind vergleichbar mit den „deutschen“ oder sonstigen „nationalen“ Restaurants (empfehlenswert: Mongolisch!), die weit teureren Sushi-Lokale sind ebenfalls deutlich frequentierter. Qualitativ kann kein Pizza-Bäcker der Stadt mithalten, in der populären Fastfood-Kette „MacFood“ wird gern auch mal Pizza mit Majonnaise als Käseersatz angeboten. Auch Reklame ist vorhanden, ein großes Werbebanner ist über die vielbefahrene ulica Karla Marksa gespannt, eine Pappfigur weist den Weg in die ruhige Nebenstraße, in der das Antico Borgo gelegen ist.

Also muss das Verschmähen des vor zwei Monaten eröffneten, einzigartigen Lokals einen anderen Grund haben. Meine Mitarbeiterin aber sagte, das sei völlig normal. Ein neu eröffnetes Restaurant ist in Russland anfangs immer leer. Die Leute seien sehr zurückhaltend, um nicht zu sagen skeptisch, zwar auch neugierig, aber eben abwartend. Es brauche ein bisschen seine Zeit, bis es sich herumgesprochen hat und mit Gästen füllt. Aber dann kommen die Leute.

– Wenn niemand hingeht, wie soll es sich denn herumsprechen?

– Wir sind doch gerade drin.

– Zu wem gehst du nachher und berichtest?

– Weiß noch nicht. Vielleicht der Familie, Freunden. Geburtstage sind ein guter Anlass für Restaurantbesuche.

– Wissen Kunden eines neuen Lokals um ihren informellen Werbeauftrag?

– Selbstverständlich. Mündliche Weitergabe von Informationen ist unabdingbar für das Bestehen der russischen Gesellschaft. Jeder beteiligt sich daran, wie könnte er nicht?

– Wie kann man abwartend neugierig sein?

– Man könnte sagen, man möchte wohl gern, wartet aber auf einen Anlass mit persönlicher Einladung, mindestens aber auf persönliche mündliche Empfehlung einer vertrauten Person, um endlich ausprobieren zu dürfen.

– Die Information ist also, Zutrauen zu wecken?

– Zutrauen zur Neugier, ja.

– Ich vermute, interkulturelle Forschung ist nicht in Russland erfunden worden?

– Vermutlich nicht, nein.

Womöglich habe ich Alessandra ein paar zukünftige Gäste ins Dorf gelockt. Ein Kritikpunkt aber – und den hatte sie selbst angesprochen – ist das musikalische Ambiente.  Selbst für ein Restaurant, das ein antico im Namen führt, ist Italopop (Ramazzotti, Celentano etc) jenseits aller Atmosphäre.

Anti-Terror/Kulinarisches/minimal stories/Sprache/Wildbahn

Ein Öbstchen

Posted by Sascha Preiß on

Im Wald in Nähe der Stadt Angarsk in Nähe der Stadt Irkutsk in Nähe des Baikalsees irgendwo in Russland ist am 8.April 2010 zu nicht genannter Stunde vom Spürsinn des Hundes eines Wachmanns ein „Gegenstand“ entdeckt worden. Eingeleitete Untersuchungsmaßnahmen identifizierten das Fundobjekt als Handgranate vom Typ F-1. Auf welche Weise die leicht angerostete Granate in den Angarsker Wald gelangte, ist unbekannt. Fest steht, dass es aus Gründen der Gefahren- und Terrorabwehr zu umfangreichen Polizeisicherungen und dem Einsatz von OMON-Spezialkräften kam, im Laufe dessen weiträumige Evakuierungen um die Granate vorgenommen wurden. Fest steht weiterhin, dass sich im Russischen Liebkosungen ebenso wie Ironie durch Diminutiva ausdrücken lassen. Noch am ganz und gar selbigen Tage ward das zärtlich bezeichnete „Zitrönchen“ im Wäldchen unschädlich gemachet. Der Fundort des gefährlichen Obstes befand sich sinnvollerweise in Sichtweite des Einkaufzentrums „Apfelsine„.

Grenzenlos/Irkutsk/Statistik

Eine Meldung für potentielle Zivilisationsflüchtlinge

Posted by Sascha Preiß on

Während sich in Deutschland die Bundesnetzagentur auf die Versteigerung alter und neuer Frequenzen vorbereitet, um eine lückenlose Internetnutzung in Deutschland zu gewährleisten, ist eine Internetlandkarte ohne weiße Flecken im Irkutsker Gebiet auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Auf der Hand liegt, dass die enorme Gebietsgröße (mehr als doppelt so groß wie Deutschland) und schwache Besiedlung (71,5 mal geringer als Deutschland) eine flächendeckende Internetnutzung auch kaum wahrscheinlich werden lässt.  Wer sich also vor den Zurichtungen modernen Lebens in Sicherheit bringen möchte, ist hier gut aufgehoben, herzlich willkommen.

Dass man als Universitätsdozent in der russischen Provinz nach wie vor mit völliger Nicht-Nutzung des Internet von Studierenden konfrontiert wird, ist dennoch immer wieder überraschend.

– Wo finde ich Informationen über dies und das in Deutschland?
– Schauen Sie dafür am besten auf folgende Webseiten.
– Haben Sie nichts, was ich kopieren und mitnehmen kann?

Mag sein, dass auf Papier Gedrucktes grundsätzlich vertrauenerweckender ist als gestaltloser Bildschirmtext. (Papierbasierte Kommunikation ist eine der Säulen, auf denen u.a. hiesige Verwaltungsarbeit, mithin Gesellschaft beruht. Papier, auf denen eine Unterschrift steht, ist Zeugnis menschlicher Existenz. Maschinenerstellte, unterschriftslos gültige Dokumente sind ein Paradox und nicht vorstellbar.)

Mag auch sein, dass die Anschaffung eines Computers die finanziellen Möglichkeiten mancher Familien deutlich übersteigt.

Mag auch einfach sein, dass der Fragende mal nur hineinschauen und ein kleines Souvenir vom Büro des Ausländers mitnehmen wollte.

Die jetzt veröffentlichten Zahlen zur Internetnutzung im Irkutsker Gebiet legen den Schluss sehr nahe, dass Internetnutzung für den Großteil der Bevölkerung schlicht zu teuer und unattraktiv ist. Zumal es hier immer noch ein neues Medium ist, das durchaus umfangreicher beworben werden muss. Die Statistik zum Internet in Irkutsk weisen die Region als eine der schwach entwickelten Regionen im russischen Durchschnitt aus. Von den insgesamt 2,5Mio Einwohnern des Irkutsker Gebietes nutzen deutlich weniger als die Hälfte, 1,08Mio, überhaupt das Internet. Zum Vergleich die Internetnutzung in Deutschland 2009: 67,1%.

Bemerkenswert für den Irkutsker Raum sind dabei eine ganze Reihe von Punkten: Nicht nur ist die Nutzung von mobilem Internetzugang über Telefon oder USBstick im Gegensatz zu Kabelanschluss zu Hause überproportional hoch (926.000 : 154.000). Jeder Mobilfunkanbieter hat gleichzeitig Internettarife und entsprechende USBsticks im Angebot, die einfach zu bedienen sind und zuverlässig funktionieren – allerdings teuer in der Nutzung sind.

Gleichzeitig gibt es eine Vielzahl von Internetanbietern (im Artikel sind 10 regionale aufgeführt, die überregionalen kommen noch dazu), unter denen offenkundig deutlich zu wenig marktwirtschaftliche Konkurrenz existiert, um ein verbraucherfreundliches Angebot für mehr Heimanschlüsse zu gewährleisten. So nutzen nur die Hälfte aller Internetnutzer die höheren, schnelleren Tarife, ein Viertel nutzen den jeweils niedrigsten Tarif (56k-Qualität und darunter) und 20% klagen über Verbindungsstörungen. In den „besserverdienenden“ Gegenden haben gerade einmal 30% der Einwohner einem Heimanschluss, ansonsten ganze 10%. Zum Vergleich das eine Zeitzone bzw 1000km westlich gelegene Krasnojarsk: dort ist ein Internetanschluss deutlich günstiger zu haben und wesentlich zuverlässiger, im Ergebnis surfen immerhin schon 50% der Einwohner von zu Hause.

Gründe für diese Situation, die spätestens seit Medwedjews Rede an die Nation als problematisch wahrgenommen wird, liegen an der völligen Zersplitterung des Internetmarktes. Allein das Stadtgebiet Irkutsk wird nur partiell von einigen Anbietern versorgt, selbst im Stadtzentrum ist es möglich, dass nur ein einziger Provider eine Verbindungseinrichtung anbietet, weil es anderen unmöglich ist, eine stabile, schnelle Verbindung zu gewährleisten. Eigene Erfahrungen bestätigen das. Ursache sind oftmals die hoffnungslos veraltete Infrastruktur, etwa noch aus sowjetischer Zeit stammende Telefonkabel, über die mehrheitlich der Webzugang geschaltet wird und die damit hoffnungslos überfordert sind. Im Ergebnis bleiben deutlich zu hohe Preise (die im Laufe der vergangenen 12 Monate gesunken sind) bei tendenziell schlechter Qualität. Im Moment zahlen wir für eine Flatrate mit Übertragungsrate deutlich unter DSL-Geschwindigkeit (bis 1024 Kb/s) 25 Euro pro Monat. Moskauer Tarife sehen da schon etwas europäischer aus.

Ausweg: die noch teureren mobilen Tarife. Oder das gute alte geduldige Papier. Oder Funkstille.

Ulica/Unter Deutschen

Frühjahrsputz

Posted by Sascha Preiß on

Auch wenn warme Tage noch auf sich warten lassen, ab -5°, heißt es, beginnt der sibirische Frühling, ab +5° bereits der Sommer. Durch die Sonneneinstrahlung, den andauernden Minusgraden zum trotz, taut die Stadt tatsächlich auf, auf dem Markt kann man junge Weidenkätzchen (Osterbrauch) und erste Frühblüher kaufen. Was romantisch klingt, wird von den Einwohnern wenig geliebt. Der zum Vorschein kommende Unrat, eine breiige Mischung aus Plaste, Glas, Hundekot, zu Schlamm geschmolzenen Seitenwegen und Undefinierbarem, beseelt die Irkutsker Straßen mit einem unverwechselbaren Lebensgefühl, das sich an Schuhsohlen, Hosen, Mantelsäumen festsetzt und sich über Busse, Taxis und Straßenbahnen bis in die Geschäfte und Wohnungen verbreitet. Putztücher für Schuhe sollten jederzeit griffbereit sein, an sauberen Schuhen erkennt man gepflegte Leute. Das Reinigungspersonal in den Läden und Restaurants hat reichlich zu wischen.

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Noch am Wochenende diskutierten ein paar Deutsche über den Schmutz in der Stadt und das vermeintlich fehlende Sauberkeitsempfinden der russischen Bevölkerung. Das könne man insbesondere am Zustand der sanitären Einrichtungen und den Scheißhäusern von Schulen und Gaststätten ablesen, sagte ein empörter Pensionär, der mit seiner Frau seit einem halben Jahr in Irkutsk lebt. Jedes Restaurant und Hotel, das ein ordentliches Klo vorzuweisen habe, erhalte unabhängig von der Qualität der Speisen von ihm bereits einen Stern. Was er hingegen nicht begreife, sei diese russische Gleichgültigkeit, ja eigentlich Resignation, mit der die Verhältnisse akzeptiert würden, was sich im russischen normal’no manifestiere. Dieses Wort wäre ihm unerträglich geworden. Nun sei es wohl einzusehen, dass nicht allerorts weltweit deutsche oder gar norwegische Verhältnisse, die seine Frau explizit lobte, herrschen könnten, doch an dieser Stadt zeige sich nach seinem Verständnis ein gesellschaftliches Versagen in puncto Sauberkeitsempfinden. Gegenargumente dergestalt, dass weltweit alle Staaten mit den überbordend produzierten Verpackungsgebirgen aus Plaste ein grundsätzliches Problem haben, dass sinnvolle Lösungsansätze reichlich Geduld und Überzeugungsarbeit erforderten und stets teurer sind, als das Zeug einfach wegzuwerfen, und dass insbesondere Gesellschaften, die ökonomisch weit unter europäischem Niveau lägen, daher auch bedeutendere soziale Konflikte auszutragen hätten, Arbeitslosigkeit, Drogen etc, bei denen es ganz sicher nicht in erster Linie um Sauberkeit auf den Straßen ginge, fruchteten nicht recht. Man einigte sich darauf, dass Reinheit wohl bei einem selber anfange, aber auch eines öffentlichen politischen Willens und Anreizes bedürfe.

Eine intensive Diskussion über Sauberkeit auf russischen Straßen gelingt wohl nur preußisch geschulten Europäern derart vorbildlich. Ein russischer Nachwuchswissenschaftler aus Irkutsk sagte dazu, er habe das eigentlich nie als Problem gesehen, für ihn sah die Stadt schon immer so aus wie jetzt und damit völlig normal’no, wenn es taut, wäre es ein bisschen anstrengend, aber dann käme ja auch schon bald der Sommer und wenn es blühe, sähe alles wieder ganz anders aus und alle führen sowieso aufs Land. Umgedreht sei es ebenso selbstverständlich wie lächerlich, dass die Straßen deutscher Städte im Kino grundsätzlich in übertrieben gutem und sauberem Zustand gezeigt würden. Das wäre doch aber auch kein Grund zur Aufregung. Um etwas zu verändern, fügte er noch an und zählte Niederlagen seines Wissenschaftlerlebens auf, könne man in Russland sowieso nichts initiieren, was dem Kerl in der Chefetage widerstrebt. Bürgerliches Engagement habe eigentlich kaum Chancen. Russische Probleme erforderten russische Lösungen.

Eine solche wartet nun auf die Irkutsker während des gesamten April: Ab morgen beginnt der Monat des Frühjahrsputzes und der gründlichen Stadtreinigung. Eine ganze Menge Geld wird zur Säuberung der Straßen, Parks, Brücken, Märkte und Fassaden ausgegeben, am meisten für die Verschönerung des Zentrums. Nachdem reichlich Schnee und Eis von Dächern und Straßen geklopft worden war, mehr als 110 Tonnen, sah man nun erste junge Männer mit Plastesäcken durch die Straßen laufen und Flaschen unter Bäumen einsammeln. Höhepunkt der Aktion wird der 24. April sein, dann gibt es einen landesweiten Subbotnik. Damit der Frühjahrsputz gelingt, werden die Straßen aus der Stadt gesondert bewacht, damit niemand auf die Idee kommt, den gesammelten Müll einfach irgendwo ins Grüne zu verlagern.

Damit wäre dann auch wieder für Stoff zu ausgiebigen Diskussionen gesorgt.

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Quelle: http://commons.wikimedia.org

Interkultur

Getarnte Fremde

Posted by Sascha Preiß on

Ausländer sind in Russland schnell als Ausländer bzw Nicht-Russen erkannt. Ob der Taxifahrer annimmt, man komme des Akzentes wegen sicherlich aus Jugoslawien, oder die Kellnerin vermutet, man müsse mindestens aus Tschechien wenn nicht sogar Polen kommen, man habe so ein unverkennbar polnisches Gesicht, ist eigentlich unerheblich. Man ist Ausländer. Wenn man dann antwortet, man sei in Wahrheit in Deutschland gebürtig, wird mancher verwundert, mit dem Lächeln des Bedauerns oder fassungslos hysterisch fragen, was einen als Deutscher denn nun ausgerechnet hierher verschlagen habe. Es kann sogar vorkommen, dass man gefragt wird, ob ein Foto aufgenommen werden könne, weil man für den Fragenden die erste leibhaftige Begegnung mit einem Ausländer darstellt. So z.B. ein jugendlicher Mitarbeiter in einem kleinen Handyladen im Irkutsker Stadtzentrum. (Sein Kollege winkte jedoch ab, er sei aus Vladivostok und dort so vielen Ausländern begegnet, das würde überbewertet. So blieben wir ungeknipst.) Viele Möglichkeiten der Tarnung indes hat man nicht. Ein neues Handy mit viel bunt und Kram ist aber ein guter Anfang. Als wir aus dem Laden wieder heraustraten, sagte eine russische Freundin: Deutsche in Sibirien erkenne man stets an ihren uralten, spartanischen Mobiltelefonen, jetzt, da ich ein neues habe, sei es bedeutend schwerer, mich als Ausländer auszumachen. Dann lachten wir.