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Ulica/Unter Deutschen

Frühjahrsputz

Posted by Sascha Preiß on

Auch wenn warme Tage noch auf sich warten lassen, ab -5°, heißt es, beginnt der sibirische Frühling, ab +5° bereits der Sommer. Durch die Sonneneinstrahlung, den andauernden Minusgraden zum trotz, taut die Stadt tatsächlich auf, auf dem Markt kann man junge Weidenkätzchen (Osterbrauch) und erste Frühblüher kaufen. Was romantisch klingt, wird von den Einwohnern wenig geliebt. Der zum Vorschein kommende Unrat, eine breiige Mischung aus Plaste, Glas, Hundekot, zu Schlamm geschmolzenen Seitenwegen und Undefinierbarem, beseelt die Irkutsker Straßen mit einem unverwechselbaren Lebensgefühl, das sich an Schuhsohlen, Hosen, Mantelsäumen festsetzt und sich über Busse, Taxis und Straßenbahnen bis in die Geschäfte und Wohnungen verbreitet. Putztücher für Schuhe sollten jederzeit griffbereit sein, an sauberen Schuhen erkennt man gepflegte Leute. Das Reinigungspersonal in den Läden und Restaurants hat reichlich zu wischen.

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Noch am Wochenende diskutierten ein paar Deutsche über den Schmutz in der Stadt und das vermeintlich fehlende Sauberkeitsempfinden der russischen Bevölkerung. Das könne man insbesondere am Zustand der sanitären Einrichtungen und den Scheißhäusern von Schulen und Gaststätten ablesen, sagte ein empörter Pensionär, der mit seiner Frau seit einem halben Jahr in Irkutsk lebt. Jedes Restaurant und Hotel, das ein ordentliches Klo vorzuweisen habe, erhalte unabhängig von der Qualität der Speisen von ihm bereits einen Stern. Was er hingegen nicht begreife, sei diese russische Gleichgültigkeit, ja eigentlich Resignation, mit der die Verhältnisse akzeptiert würden, was sich im russischen normal’no manifestiere. Dieses Wort wäre ihm unerträglich geworden. Nun sei es wohl einzusehen, dass nicht allerorts weltweit deutsche oder gar norwegische Verhältnisse, die seine Frau explizit lobte, herrschen könnten, doch an dieser Stadt zeige sich nach seinem Verständnis ein gesellschaftliches Versagen in puncto Sauberkeitsempfinden. Gegenargumente dergestalt, dass weltweit alle Staaten mit den überbordend produzierten Verpackungsgebirgen aus Plaste ein grundsätzliches Problem haben, dass sinnvolle Lösungsansätze reichlich Geduld und Überzeugungsarbeit erforderten und stets teurer sind, als das Zeug einfach wegzuwerfen, und dass insbesondere Gesellschaften, die ökonomisch weit unter europäischem Niveau lägen, daher auch bedeutendere soziale Konflikte auszutragen hätten, Arbeitslosigkeit, Drogen etc, bei denen es ganz sicher nicht in erster Linie um Sauberkeit auf den Straßen ginge, fruchteten nicht recht. Man einigte sich darauf, dass Reinheit wohl bei einem selber anfange, aber auch eines öffentlichen politischen Willens und Anreizes bedürfe.

Eine intensive Diskussion über Sauberkeit auf russischen Straßen gelingt wohl nur preußisch geschulten Europäern derart vorbildlich. Ein russischer Nachwuchswissenschaftler aus Irkutsk sagte dazu, er habe das eigentlich nie als Problem gesehen, für ihn sah die Stadt schon immer so aus wie jetzt und damit völlig normal’no, wenn es taut, wäre es ein bisschen anstrengend, aber dann käme ja auch schon bald der Sommer und wenn es blühe, sähe alles wieder ganz anders aus und alle führen sowieso aufs Land. Umgedreht sei es ebenso selbstverständlich wie lächerlich, dass die Straßen deutscher Städte im Kino grundsätzlich in übertrieben gutem und sauberem Zustand gezeigt würden. Das wäre doch aber auch kein Grund zur Aufregung. Um etwas zu verändern, fügte er noch an und zählte Niederlagen seines Wissenschaftlerlebens auf, könne man in Russland sowieso nichts initiieren, was dem Kerl in der Chefetage widerstrebt. Bürgerliches Engagement habe eigentlich kaum Chancen. Russische Probleme erforderten russische Lösungen.

Eine solche wartet nun auf die Irkutsker während des gesamten April: Ab morgen beginnt der Monat des Frühjahrsputzes und der gründlichen Stadtreinigung. Eine ganze Menge Geld wird zur Säuberung der Straßen, Parks, Brücken, Märkte und Fassaden ausgegeben, am meisten für die Verschönerung des Zentrums. Nachdem reichlich Schnee und Eis von Dächern und Straßen geklopft worden war, mehr als 110 Tonnen, sah man nun erste junge Männer mit Plastesäcken durch die Straßen laufen und Flaschen unter Bäumen einsammeln. Höhepunkt der Aktion wird der 24. April sein, dann gibt es einen landesweiten Subbotnik. Damit der Frühjahrsputz gelingt, werden die Straßen aus der Stadt gesondert bewacht, damit niemand auf die Idee kommt, den gesammelten Müll einfach irgendwo ins Grüne zu verlagern.

Damit wäre dann auch wieder für Stoff zu ausgiebigen Diskussionen gesorgt.

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Quelle: http://commons.wikimedia.org

Interkultur

Getarnte Fremde

Posted by Sascha Preiß on

Ausländer sind in Russland schnell als Ausländer bzw Nicht-Russen erkannt. Ob der Taxifahrer annimmt, man komme des Akzentes wegen sicherlich aus Jugoslawien, oder die Kellnerin vermutet, man müsse mindestens aus Tschechien wenn nicht sogar Polen kommen, man habe so ein unverkennbar polnisches Gesicht, ist eigentlich unerheblich. Man ist Ausländer. Wenn man dann antwortet, man sei in Wahrheit in Deutschland gebürtig, wird mancher verwundert, mit dem Lächeln des Bedauerns oder fassungslos hysterisch fragen, was einen als Deutscher denn nun ausgerechnet hierher verschlagen habe. Es kann sogar vorkommen, dass man gefragt wird, ob ein Foto aufgenommen werden könne, weil man für den Fragenden die erste leibhaftige Begegnung mit einem Ausländer darstellt. So z.B. ein jugendlicher Mitarbeiter in einem kleinen Handyladen im Irkutsker Stadtzentrum. (Sein Kollege winkte jedoch ab, er sei aus Vladivostok und dort so vielen Ausländern begegnet, das würde überbewertet. So blieben wir ungeknipst.) Viele Möglichkeiten der Tarnung indes hat man nicht. Ein neues Handy mit viel bunt und Kram ist aber ein guter Anfang. Als wir aus dem Laden wieder heraustraten, sagte eine russische Freundin: Deutsche in Sibirien erkenne man stets an ihren uralten, spartanischen Mobiltelefonen, jetzt, da ich ein neues habe, sei es bedeutend schwerer, mich als Ausländer auszumachen. Dann lachten wir.

Interkultur/Universität

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Posted by Sascha Preiß on

Ein junger Student sagte neulich, über das Thema „Reisen“ philosphierend, mit Nachdruck und prinzenhafter Würde, er sehe nicht, wozu das gut sein solle, er würde daher nicht reisen, insbesondere nicht ins Ausland, das interessiere ihn nicht, er habe seine Datscha im Wald am See und seine Freunde, die ebenfalls ihre Datscha im Wald am See hätten, kämen ihn jeden Sommer dort besuchen. Ein klares Weltbild, aufgeräumt, übersichtlich, erdbebensicher vor äußeren Einflüssen. Dass der junge Mann an der Universität eine Fremdsprache erlernt, gehört wohl zu den unbedeutenden Pointen der sibirischen Wildnis.

Anti-Terror/Baikal/Irkutsk/Ulica

Mittelpunkt der Welt

Posted by Sascha Preiß on

Es tut sich was in der ferneren sibirischen Provinz, die sich manchmal wegen seiner geografischen Lage auch schlicht den Mittelpunkt der Welt nennt.

Nicht allein, dass bei den Regionalwahlen am vergangenen Wochenende ein neuer Bürgermeister für Irkutsk gewählt wurde, der überraschend nicht der Partei „Einiges Russland“ angehört, was sogar auf tagesschau.de berichtet wurde.

Auch die schon länger angekündigte Ausgangssperre für Jugendliche unter 18 Jahren ist bereits seit Februar in Kraft. Zuwiderhandlungen können mit bis zu einer halben Million Rubel geahndet werden.

Mit 4 Millionen Rubel ist dagegen das Programm zum Einfangen herrenloser Hunde ausgestattet, mit dem inzwischen begonnen wurde.  Die Tiere sollen maximal sechs Monate verwahrt bleiben, danach werden sie – sofern sich ihrer niemand annimmt – eingeschläfert. Kranke Tiere werden sofort eingeschläfert. Das Programm soll die Sicherheit der Einwohner erhöhen. Doch unter der grundsätzlich tierlieben Bevölkerung regt sich Protest.

Apropos: Ganz so einfach lässt sich der Protest gegen das Zellulosekraftwerk Baikalsk wohl doch nicht aufhalten. Immerhin haben inzwischen beinah alle unabhängigen Ökologie-Vereine in ganz Russland, incl. Greenpeace Russland und dem WWF Russland, sich zu einer neuen Organisation zusammengeschlossen, die nur ein einziges Ziel verfolgt: den Baikal zu schützen. Russlandweit ist daher für morgen, den 20. März, aufgerufen, sich an der Irkutsker Demonstration zur Schließung des Zellulosekraftwerks zu beteiligen.

Zeitgleich hat Ministerpräsident Putin reich ausgestattete Stipendien zur Erforschung des Ökosystems Baikal vergeben. Was für Putin, selbst leidenschaftlicher Baikaltourist, der am See eine Villa besitzt, kein Widerspruch zu sein scheint mit seinem Einsatz für den Erhalt des umstrittenen Zellulosekraftwerks. Diese Geschichte ist lange noch nicht zu Ende.

Zu Ende hingegen ist die Geschichte der Jugendbande „Magie des Blutes“ und damit die besonders grausamer Verbrechen. Der 21jährige  und nun zu lebenslanger Haft verurteilte Konstantin Sch. gestand, mit befreundeten Schülern Obdachlose des Raions Novo-Lenino „aus reiner Neugier“ gefoltert, verstümmelt und ermordet zu haben.

Ebenfalls gestorben ist der zweijährige Nikita Tschemisow. Der Junge war Anfang April 2009 ins Krankhaus eingeliefert worden und kurz darauf ins Koma gefallen, aus dem er nicht mehr erwachte. Er war monatelang von seinen Eltern schwer misshandelt worden und schließlich an den Folgen seiner Verletzungen gestorben. Den jugendlichen Eltern drohen langjährige Haftstrafen. Das traurige Sterben des Jungen wurde intensiv medial begleitet.

Russland

Frauentag

Posted by Sascha Preiß on

Es hat Blumen gegeben, bunt und reichlich. Dazu überschwenglich glitzernde Glückwunschkarten. Und prunkvolle Pralinenkästen. Gabs überall zu kaufen und war heute der geehrten Dame zu überbringen. Glückwunschtage sind Festtage. Warum dieser Tag, weiß wohl kaum noch wer. Erhalten hat sich in Irkutsk eine Clara-Zetkin-Straße, erhalten haben sich in Russland viele alte Heldennamen. Wer das mal war, irrelevant. Wichtig ist: achter März ist arbeitssfrei, da kauft Mann Blumen für die Frau. Was soll man sonst tun als Mann für seine Frau.

Am fünften März steht meine zukünftig schwangere Mitarbeiterin im Zimmer und leuchtet etwas, als sie von Plänen spricht, ein halbes Jahr Fortbildungsstipendium in Deutschland, dann Arbeit als Lehrerin, Dozentin, berufliche Perspektive. Sie wird ruhiger. Ihr Mann verbietet ihr das Stipendium, sie soll sich ums Kind kümmern, das sei halt normal.

Der junge Mann beugt sich im Bus über die sitzende Frau und versucht sie zu küssen. Sie ignoriert ihn, seine Versuche, zornig. Er zupft ihr in den Haaren, sie verscheucht seine Hand. Er redet auf sie ein, angetrunken, spricht von seinen Gefühlen für sie. Sie schaut angestrengt aus dem Fenster. Er küsst sie immer wieder ins Gesicht. Sie will in Ruhe gelassen werden, windet sich unter ihm. Er achtet gar nicht darauf, drückt sie erneut an sich.

minimal stories/Russland

minimal story 10

Posted by Sascha Preiß on

Wenn man am Nachmittag mit der kleinen Tochter im Tragetuch durch den kleinen, verwilderten Park hinter dem Dom Sukachova geht und von einer unbekannten jungen Frau mit Kind angesprochen wird, ob man ihr sagen könne, wo denn das Tuch gekauft sei, das gäbe es doch ganz sicher nicht in Irkutsk, das sei ganz bestimmt aus Deutschland, denn sie wisse ja, dass man selbst auch aus Deutschland sei und hier in Irkutsk für einige Zeit mit Familie lebe und beide, Mann und Frau, in je einer Universität als Deutschlehrer arbeite und die Tochter hier im Juni geboren wurde und Liljana heiße, die anderen Namen habe sie auch mal gewusst, und das wisse sie deshalb, weil ihr Kind genau wie Liljana auch immer eine Massage der Kinderärztin Larissa erhalte, die ihr das alles erzählt habe – dann also weiß man ganz zweifellos, dass die 600.000-Einwohner-Metropole am Baikal tiefste (russische) Provinz ist.

Anti-Terror/Baikal/Ulica

Was da vor sich geht

Posted by Sascha Preiß on

Gab es in der ersten Februarhälfte noch öffentlich geduldeten Protest gegen die Wiedereröffnung des Zellulosekraftwerk Baikalsk, so wird im Vorfeld der Bürgermeisterwahl in 14 Tagen der offizielle Umgang mit den Initiatoren des Meetings deutlich rauher. Auch eine Klage gegen Baikalwave wegen der Verbreitung von Lügen über das Kraftwerk steht kurz bevor.

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Weiterhin brennen im zukünftigen Museumsviertel bewohnte Holzhäuser. Damit ist seit Dezember 2009 der achte Brand in einem sehr kleinen Viertel ausgebrochen. Was mit den ehemaligen Bewohnern der Häuser passiert, ist unklar. Die Häuser jedoch sind frei zur Sanierung und Umgestaltung als Restaurant oder Galerie.

UPDATE: Der mutmaßliche Brandstifter ist gefasst. Ein 14jähriger verhaltensauffälliger Schüler, vor einiger Zeit mit seiner Mutter aus Bratsk zugezogen, soll diese und andere Brände gelegt haben.