Die Salbe

Der junge Lehrer Alexej Michailovich stieg raschen Schrittes die Treppe hinauf, öffnete schwungvoll die Tür und hatte mit dem Einatmen des ewigen Apothekengeruchs augenblicklich den Namen der Salbe vergessen, die er besorgen wollte. Seine Frau, die ihn zu Hause mit ihrem Töchterchen erwartete, hatte ihm am Nachmittag angerufen und gesagt, er solle auf dem Heimweg noch schnell bei der Apotheke vorbei und die Salbe mitbringen, um dann ab 17 Uhr die süße Kleine am Abend ein bisschen zu betreuen. Alexej Michailovich hatte sich beeilt, rechtzeitig von der Schule loszugehen, keine allzu ausufernden Gespräche mit der dienstältesten Kollegin Vera Nikolaevna über die richtige Pflege und Erziehung von Kleinkindern zu führen (ihre als Befehle vorgebrachten Ratschläge zeugten von großem pädagogischen Wissen und lebenslanger mütterlicher Erfahrung, waren aber leider vollkommen unbrauchbar, seine Frau befolgte sowieso nur das, was sie selbst für das Richtige hielt und das war jeden Tag etwas anderes), murmelte während der gesamten Straßenbahnfahrt den Namen der Salbe vor sich hin – und stand nun in der Apotheke wie ein Schüler, der viel zu viel gelernt hat und vor Anspannung die Prüfung versaut. Er wusste immerhin noch den Anfangsbuchstaben, G oder L, oder was mit D. Ansonsten starrte er blöd in den Raum.

Drei in silberbraune Pelzmäntel gehüllte ältere Damen und doppelt so viele Apothekerinnen wandten sich dem Lehrer zu und schauten ihn an. Nach handgestoppten sieben Sekunden, in denen nichts geschah, wandten sich alle wieder ihrer vorigen Beschäftigung zu, warteten ergeben, führten langwierige Verkaufsgespräche oder machten gar nichts. Alexej Michailovich rührte sich ein wenig, setzte die Mütze ab, unter der er schwitzte, kratzte sich und wandte sich den Glasvitrinen an den Wänden zu. Womöglich war die Salbe darin ausgestellt, manchmal hat man ja Glück und das Gesuchte schiebt sich einem direkt unter die Nase. Als er alle Vitrinen durchgesehen hatte und sich sicher war, die Salbe nicht gesehen zu haben, überprüfte er alles noch einmal und kam zu dem gleichen Ergebnis. In seiner Erinnerung war die Salbe in einer blauweißen Schachtel verpackt, auf der gut lesbar der Name geschrieben stand. Glycerol. Nein. Dynvital. Nein. Laktosan. Nein, ein S kam wohl nicht vor. Die Apothekerinnen und Pelzmanteldamen schielten zu Alexej, wie er vor den Glasvitrinen auf und ab ging und fieberhaft überlegte. Aber er wollte niemanden um Rat fragen. Er hätte nur etwas Unverständliches heraus gebracht, er bräuchte so eine Salbe mit G, L oder D, vielleicht auch M, ziemlich sicher ohne S, die in einer blauweißen Verpackung stecke. Zweifellos wären die Apothekerinnen vor unterdrücktem Lachen ganz grün angelaufen, bis es eine nicht mehr hätte zurückhalten können und sich schließlich alle Anwesenden ausgiebig über ihn lustig gemacht hätten. Dass ein Schüler den Tränen nahe war, weil ein Fehler in der Mathearbeit besonders komisch weil tölpelhaft erschien, dass es die gesamten Klasse erfahren und darüber lachen musste, war das eine. Aber hier fühlte er sich doch sehr unwohl. Er schrieb seiner Frau eine SMS. Als sie nach einer halben Minute immer noch nicht geantwortet hatte, rief er sie an. Es klingelte lange, aber seine Frau antwortete nicht. Alexej spürte, wie seine Anspannung in Ärger umschlug. Er rief noch einmal an, das Rufzeichen ertönte mehr als ein Dutzend mal, aber die Stimme seiner Frau ertönte einfach nicht. Alexej zischte fluchend durch die Zähne. Er atmete ein und aus. Nahm das Telefon, wählte noch einmal ihre Nummer und hielt es sich ans Ohr. Seine Frau antwortete nicht. Er rannte aus der Apotheke, ob die da drin über ihn lachten oder nicht, war ihm egal. Wichtiger war, warum zum Teufel seine Frau nicht antwortete. Es gab eine Reihe von Möglichkeiten. Sie hatte sich mit der Kleinen hingelegt und schlief. Aber war das jetzt ihre Schlafzeit oder was? Das Klingeln des Telefons hätte sie trotzdem hören müssen. Oder sie hatte es leise gestellt und hörte es nicht. Verfluchte Scheiße, sie soll doch ihr Telefon nicht leise stellen, es könnte etwas Wichtiges sein und dies war jetzt wichtig. Oder sie war auf dem Klo, oder unter der Dusche. Und das Kind, wo war das dann, auch auf dem Klo? Warum musste sie ausgerechnet jetzt duschen, wo er den Namen der Salbe brauchte? War sie gar nicht zu Hause? Sie musste zu Hause sein, sie hatte gesagt, sie sei zu Hause. Alexej spuckte aus. Er hätte einfach nach Hause gehen und nachsehen können, dann hätte er auch den Namen der Salbe gewusst. Die Apotheke lag keine 5 Minuten von der Wohnung entfernt. Aber wozu hat man denn Telefone?? Außerdem kann er doch nicht mit leeren Händen nach Hause kommen und er hätte noch einmal losgehen müssen. Und dazu hatte er eben einfach keine Lust.

Also setzte er sich verärgert in die Sakusochnaja um die Ecke und wartete. Es war 5 nach 17 Uhr, er hätte längst zu Hause sein sollen, aber wenn seine Frau nicht antwortete, wartete Alexej eben so lange, bis sie sich bequemte, ihm den Namen der beschissenen Salbe zu sagen. Er verspürte einen ganz und gar unanständigen Appetit nach Bier.

Keine 10 Minuten waren vergangen, dass er die Apotheke verlassen, das erste Bier genusslos hintergestürzt und die dritte Zigarette angezündet hatte und vor dem zweiten Bier saß, da erhielt er eine SMS. Von seiner Frau. Die Salbe heiße Bepanthen, sie habe die Kleine gestillt, das Telefon habe im Nebenzimmer gelegen, wann er nach Hause komme, Küsschen. Alexej drückte die SMS weg. Küsschen, ja ja. Das hätte sie auch ruhig früher schreiben können. Bepanthen, ein bescheuerter, unmerkbarer Name. Jetzt saß er hier, trank und rauchte erst einmal. Und überlegte, gemächlich. In seinem Zustand konnte er nicht einfach so heimgehen und mit der süßen Tochter spielen, nach Alkohol und Zigarette stinkend, als guter Vater, der er war, verbot sich das von selbst. Da musste seine Frau jetzt durch, er würde eben später kommen und eine Ausrede erfinden. Hätte sie rechtzeitig geantwortet, würde er hier nicht sitzen müssen. Außerdem kritisierte sie ihn sowieso die ganze Zeit und wollte eigentlich alles alleine machen, na das konnte sie jetzt.

Alexej überlegte noch, als das drittes Bier gebracht wurde und sein Telefon klingelte. Seine Frau. Etwas panisch schaute er auf das klingelnde Ding. Er konnte auf keinen Fall rangehen. Eine Ausrede war ihm immer noch nicht eingefallen. Er wusste, dass er nur miserable, leicht durchschaubare Lügen zustande kriegte. Also ignorierte er das Klingeln eben. Nach 5 Minuten hörte es endlich auf. Er beschloss, in der Sakusochnaja auszuharren, bis seine Frau mit der Kleinen schlafen gegangen war, noch mindestens 4 Stunden, eher traute er sich nicht zu ihnen.

Als Larissa Vitaljevna, die Alexej an fröhlichen Tagen zärtlich Clara, Chiara oder Jasna nannte, gegen 1 Uhr in der Nacht aufstand, um nach ihrer Tochter Rosalia genannt das Röschen im Kinderzimmer zu sehen, erkannte sie sofort, warum die Kleine laut weinte und nicht mehr einschlafen konnte: Auf der bunten Wolldecke am Boden, umgeben von allerlei Spielzeug für das Kind, lag Alexej Michailovich, die Salbe in den Händen, schnarchte enorm und lächelte im Schlaf.


Sascha Preiß

http://www.pselbst.de

siehe http://www.pselbst.de/irkutsk/uber-mich/

Comment ( 1 )

  1. 19.08.2014 | Das Gespenst in der Hafenbar
    […] heute ist meine Erzählung “Die Salbe” als Weblesung online. Ein Tonfall tschechowscher Leichtigkeit, der mir heute nicht mehr gelänge. […]

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