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Irkutsk/Russland

Tag der Einheit

Posted by Sascha Preiß on

 Der „Tag der Einheit des Volkes“ ist einer der jüngsten Feiertage in Russland, und um ihn zu popularisieren wird dazu ein umfangreiches nationales Volksfest zelebriert. Das schließt auch aufklärend positive Berichterstattung zu den Feierlichkeiten ein:

День народного единства отметили в Иркутске | Новости Irk.ru

Während das Bild im Artikel von Tanz und Heiterkeit und der Gouverneur des Irkutsker Oblasts von der Einheit der sibirischen Nationalitäten in Zeiten der Krise künden, denn in Krisenzeiten ist nichts so wichtig wie Folklore und nationale Erbauung, so spechen die letzten beiden Absätze die eigentliche nationalistische Kernidee des Feiertags aus: Neben Tanz und Gesang ist der traditionelle „Russische Marsch“ auch wieder veranstaltet worden (Plakate dazu waren in der Stadt angeklebt), auf dem so heitere Rufe wie „Ruhm und Ehre Russlands“, „Ruhm und Ehre dem russischen Imperium“ und „Ruhm und Ehre der Armee“ erklangen. Tief in der russischen Historie liege der Anlass für den modernen Feiertag, der einen verschütteten zaristischen Tag für die heutige Zeit wiederbelebt: Die Befreiung von der polnischen Besatzung 1612 wird gefeiert.

Die Kommentare lesen sich allerdings weniger begeistert, ein „dummer Feiertag“ sei es, Putin könne dem Land mehr oder weniger alles verordnen. Fragt man Studenten und Kollegen, ist häufig lautes Lachen über den 4. November zu hören. Dass sich in Russland die Feiertage jederzeit ändern könnten, sei die eigentliche Tradition.

Eine Datumssuche auf wikipedia.org zeigt für den 4.November u.a. folgenden Eintrag an: „1794: In der Schlacht von Warschau im Warschauer Vorort Praga schlagen russische Truppen den Kościuszko-Aufstand in Polen endgültig nieder. Nach der Schlacht kommt es zu einem Massaker an der Zivilbevölkerung. Der Aufstand bietet den Anlass zur endgültigen Liquidierung Polens 1795.“ Zwar handelt es sich um den 4.November des Gregorianischen Kalenders, der in Russland erst 1918 Einzug hielt, doch spricht dies dennoch von einem nicht zu übersehenden Zynismus des russischen Feiertags, der das russisch-polnische Verhältnis vollständig auf den Kopf stellt und national umwertet zugunsten eines Opfer-Helden-Mythos der russischen Seite.

Man kann sich nun überlegen, was dies über die politische russische Landschaft aussagt, auch im Zusammenhang mit der Aussage einer Kollegin, die interkulturelle Kommunikation unterrichtet, die sehr bestimmt sagte, dass die Russen ein besonders tolerantes Volk sind.

Interkultur/Liljana/Russland

Vater Mutter Kind

Posted by Sascha Preiß on

Seit knapp drei Wochen hilft uns Anna mit der Betreuung von Lili. Anna ist die Tochter einer Arbeitskollegin von Jenny, 25 Jahre alt und ihre Tochter Polina ist im September in die Schule gekommen. Anna ist selbst ausgebildete Lehrerin, kann Englisch und Spanisch unterrichten. Aber sie ist momentan arbeitslos. Nicht weil es wirklich so schwer wäre, eine Stelle als Lehrerin zu finden. Es werden zwar sehr wenige junge Lehrer eingestellt und die Zahl der Neueinschulungen in Russland sinkt nach wie vor. Lehrerin zu sein ist vor allem wegen des schlechten Gehalts nicht attraktiv. Etwa 8000 Rubel würde sie verdienen, keine 200 Euro. Als Njanja bekommt sie deutlich mehr. Kinderbetreuung macht ihr auch viel mehr Spaß als Englisch-Unterricht. Und Lili fühlt sich ganz wunderbar wohl bei ihr. Anna hat sich in den ersten beiden Wochen an unsere, für russische Verhältnisse sehr ruhige Wohnung (kein Fernsehgerät!) gewöhnen müssen. Wenn Lili im Tragetuch tief und weich auf ihrer kissengroßen Brust schläft, sitzt sie selbst auf dem Sofa und langweilt sich ein bisschen. Dann schaut sie auf ihr Handy oder telefoniert leise.

Einmal hat sie beim telefonieren geweint. Der Vater ihrer Tochter hat sie vor einiger Zeit verlassen, sie weiß nicht genau, wo er wohnt, aber sie hat über Bekannte so etwas Ähnliches wie Kontakt. Anna selbst ist das unwichtig, sie vermisst ihn nicht. Aber Polina ist namentlich ihr Leben lang an diesen Mann gebunden, sie trägt den Familiennamen ihrer Mutter, jedoch den Vatersnamen, den ihr ein Vater eingebracht hat, den sie nur wenig kennt. Ein Leben ohne Otchestvo ist für Russen schlechterdings unmöglich. Sollte ein Kind geboren werden ohne bekannten leiblichen Vater, wird für die offizielle Namensfestlegung des Kindes auf der Geburtsurkunde kurzerhand ein Vater erfunden, irgendein Michail Alexandrowitsch ist immer möglich. Die Mutter ist für amtliche Belange beinahe unwichtig.

Anna würde sich dafür eigentlich nicht interessieren, wenn nicht vom Vater abhinge, was die Tochter in der Schule tun und lassen darf. Ohne seine schriftliche Einwilligung kann sie z.B. nicht mit zur Klassenfahrt. Und dieses und andere Dokumente bekommt sie nicht von ihm, von Unterhaltszahlungen ganz zu schweigen. Wenn es ihn nicht interessiert, was mit seiner Tochter passiert, hat er alle Möglichkeiten, ihr das Leben zu erschweren. Sie als Mutter muss ihm hinterherrennen und stets aufs Neue um etwas bitten. Die Behörden verlangen die Einwilligung beider Elternteile, ungeachtet der Familiensituation. Normalerweise ließe sich so etwas per Gericht klären, aber das raubt Zeit, Geld und Kraft und verspricht wenig Hoffnung. Viele russische Väter kümmern sich nicht um ihre Töchter, sagte Anna. Aber sie beeinflussen ihr Leben so sehr, dass ihr manchmal die Tränen kommen.

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Das Wetter/Russland

Russland heute, die Sowjetunion erinnernd

Posted by Sascha Preiß on

Nach der Zwischenfrage noch eine minimale Auswahl deutschsprachiger Informationen zum gegenwärtigen Stand der Dinge im größten Land der Welt.

Wahlen ohne Auswahl – stellvertretend für den sehr lesenswerten Russland-Blog der Heinrich-Böll-Stiftung

Chodorkowskij erwartet Lebenslänglich – аеродром.ная / tazblogs dokumentiert ein Focus-Interview u.a.

Verbotene Kunst in Moskau ist aber noch im Internet zu besichtigen

Für ausführlichere Zustandsbeschreibungen fragen Sie natürlich den Buchhändler Ihres Vertrauens.

„Und schließlich die dritte Umbruch-Zeit unter Putin. Vor dem Hintergrund einer neuen Phase des russischen Kapitalismus mit unübersehbar postsowjetischem Anstrich. Eines ökonomischen Modells, das der Herrschaftszeit des zweiten Präsidenten Russlands ganz und gar entspricht und gekennzeichnet ist durch einen eklektischen Mix aus Markt und Dogma, eine Vermischung von allem mit allem. Wo es beträchtliche Mengen an disponiblem Kapital gibt und ebenso viel typisch sowjetische Ideologie, die diesem Kapital Vorschub leistet, sowie noch mehr Verarmte und Mittellose. Außerdem erlebte die alte Führungskaste der Nomenklatura einen neuen Aufschwung. Diese breite Schicht sowjetischer Staatsfunktionäre, die wieder in ihre Funktion eingesetzt wurde und sich an die neuen ökonomischen Bedingungen sehr schnell und nur allzu gern anpasste. Die Nomenklatura will jetzt genauso üppig leben wie die „neuen Russen“, und das bei verschwindend geringen offiziellen Gehältern; sie will um keinen Preis der Welt die neue Ordnung gegen die alte sowjetische eintauschen, doch so ganz geheuer ist ihr diese neue Ordnung mit ihrem – von der Gesellschaft immer nachdrücklicher eingeklagten – Streben nach Recht und Ordnung nun auch wieder nicht, also verwendet sie einen Großteil ihrer Zeit darauf, sich unter Umgehung von Recht und Ordnung persönlich zu bereichern. Mit dem Ergebnis, dass die Korruption unter Putin ein beispielloses Ausmaß erreichte, von der neuen, alten Putin’schen Nomenklatura zu einer Blüte geführt, wie sie weder zur Zeit der Kommunisten noch unter Jelzin denkbar war. Diese Korruption verschlingt das kleine und mittlere Unternehmertum, also den Mittelstand, lässt nur das große und supergroße Kapital überleben, Monopole und staatsnahe Unternehmen, denn in Russland sind gerade sie es, die nicht nur für ihre Eigentümer und Manager hohe, stabile Gewinne abwerfen, sondern auch für die jeweiligen Protektoren in den staatlichen Verwaltungsstrukturen, ohne die bei uns kein einziges Großunternehmen existieren kann. In diesem Sumpf, der nichts mit Marktwirtschaft zu tun hat, kann die neue russische Parteinomenklatura (wie sie wieder wie in alten Sowjetzeiten genannt wird) ihre Sehnsucht nach der UdSSR, nach ihren Mythen und Phantomen ausleben. Putin versammelt recht gern „Ehemalige“ – Leute aus den sowjetischen Führungsstäben – unter seinen Fahnen, da nimmt es nicht Wunder, dass der ideologische Überbau des Putin’schen Kapitalismus immer stärker Züge der späten Breshnew-Zeit annimmt, die Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre von extremster wirtschaftlicher Stagnation gekennzeichnet war.“

Quelle: perlentaucher

Irkutsk/minimal stories

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Posted by Sascha Preiß on

Das im April eröffnete neue, moderne Gebäude des Irkutsker Flughafens, in dem Abflug und Ankunft von Inlandsflügen abgefertigt werden, hat im Gegensatz zum alten Gebäude, das zur Abfertigung von Auslandsflügen genutzt wird, und aus Gründen der Sicherheit einen separaten Eingang mit Kontrollschranke und einen Ausgang ohne Kontrolle. Die Passagierin des soeben gelandeten Fluges aus Moskau betritt das Gebäude durch den „Ausgang“, durch welchen sie das Gebäude für eine Zigarettenpause, während sie auf ihr Gepäck wartet, verlassen hatte. Der Wachmann am Eingang verweigert ihr den Zutritt, es sei grundsätzlich unmöglich, den Flughafen durch den „Ausgang“ zu betreten, sie habe den offiziellen „Eingang“ zu benutzen. Dort staut sich ein langer Strom von Passagieren an der Kontrollschranke, die mit dem Flugzeug nach Moskau fliegen wollen. Die Passagierin zeigt ihre Bordkarte und erklärt, dass sie lediglich für fünf Minuten das Gebäude verlassen hatte und auf ihr Gepäck wartet. Der Wachmann verweist auf den für alle Passagiere geltenden Eingang. Es entwickelt sich ein gestenreich geführter, von steigender Lautstärke geprägter Dialog, in dem die Dialogparteien beharrlich ihren jeweiligen Standpunkt durchzusetzen gedenken. Als die Passagierin einsieht, dass Argumente vergebens gewechselt sind, drückt sie den Wachmann beiseite und schiebt sich wütend ins Gebäude. Der Wachmann ruft ihr aufgebracht etwas hinterher. Beide schütteln frustriert die Köpfe.

Das Wetter/Russland

Zwischenfrage

Posted by Sascha Preiß on
minimal stories/Ulica

minimal story 6

Posted by Sascha Preiß on

Es ist noch früh am Morgen, der Rush-Hour-Verkehr staut sich bereits beträchtlich. Der Arbeitstag der jungen Straßenbahnfahrerin ist schon einige Stunden alt. Auf dem Weg zum Bahnhofsvorplatz hat sie nun zwischen gedrängten Automobilen, Stadt- und Überlandbussen, Lastwagen und reichlich Fußgängern etwas Zeit, ihr Äußeres aufzufrischen. Während sie den Waggon im Schritttempo, mit einer Hand, aus den Augenwinkeln, zur Haltestelle fährt, trägt sie sorgfältig neue Wimperntusche auf. Der Lack auf ihren Fingernägeln glänzt in der Morgensonne.

Interkultur/minimal stories/Universität

minimal story 5

Posted by Sascha Preiß on

Die erkältete russische Kollegin trinkt mit ihrem erkälteten deutschen Kollegen einen Bio-Kräutertee im Beutel, den er aus einer deutschen Apotheke mitbrachte.  Nach wenigen Schlucken hat sie die wesentlichen Teekräuter am Geschmack erkannt, wohingegen er die Zusammensetzung von der Packungsangabe erfährt. Kräutertee kauft hier eigentlich niemand, sagt sie, wir pflücken uns die Sachen im Sommer und machen die Tees alle selber. Er wüsste nicht einmal zu sagen, wie z.B. Süßholz oder blühender Fenchel genau aussieht.

Anti-Terror/Das Wetter

Diese Nacht

Posted by Sascha Preiß on

Es ist ein Nebelstreif in der Stadt.
Die Temperatur kaum über Null.
Das offene Fenster zur Straße.
Kaum ein Mensch, der so spät durch die Nacht reitet.
Wind säuselt in dürren Blättern. Gespensterjagd.

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Die Stadt hat währenddessen ein chinesisches Untergrundkasino geschlossen. Das ist illegal, weil es ein Kasino ist (die sind seit 01.07. alle geschlossen worden, um die Verarmung der Bevölkerung zu stoppen) und weil es chinesisch ist (Chinesen werden diesen Sommer bevorzugt ausgewiesen). Und das ist offenbar eine Nachricht wert.
Alles voller Erlkönige. Die Gespenster sind unter uns.

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Anti-Terror/Das Wetter

und es ward Winter

Posted by Sascha Preiß on

Meteorologisch hat der Tag gehalten, was versprochen war. Zum Beispiel ein schöner Herbststurm am Nachmittag.

Und für den Abend: Schnee. Als er fiel, war der Herbst vorbei. Nun ist Pünktlichkeit normalerweise keine traditionell russische Eigenschaft. Ausnahmen sind aber zugelassen. Umso erfreulicher, als tatsächlich wie im Hausflur angekündigt die Heizungen 19 Uhr zu „arbeiten“ begannen. Während draußen der erste Schnee „ging“, knackten sich drinnen die Rohre warm. Ab sofort kann man wieder barfuß, leicht bekleidet durch die Wohnung wandern und die staubtrockene Raumluft genießen.

Für die Parlamentarier des Oblastes war der meteorologische Tagesverlauf vermutlich ebenso erfreulich, wehten doch Sturm und Schnee die angekündigte Demonstration gegen die drohende „Ausgangssperre“ vom Kirowplatz. Bei dieser Anordnung handelt es sich um den Versuch der Gebietsregierung, per Gesetz gegen die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch Alkohol, Drogen und Pornographie vorzugehen. Die Kernidee ist die Verbannung der als gefährdet betrachteten Bevölkerungsgruppe von den Straßen zwischen 22.00 und 6.00 Uhr. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass Kinder und Jugendliche während der Nachtstunden sich nur in Begleitung ihrer Eltern auf öffentlichen Plätzen aufhalten dürfen, zudem soll ihnen der Eintritt in Geschäfte, in denen Alkohol angeboten wird, z.B. Restaurants und Bars, und Geschäfte, in denen es Waren „mit sexuellem Charakter“ zu kaufen gibt, verboten sein. Bislang ist das Gesetz als Bestandteil des allgemeinen Gesetzesvorhabens „Über die geistige und gemütsmäßige Entwicklung der Kinder im Irkutsker Oblast“ noch nicht verabschiedet, allerdings im Parlament ausgiebig besprochen worden. Unklar scheint weniger, ob die Ausgangssperre kommt, sondern lediglich das wann und wie. Fraglich auch, ob der Protest der Bevölkerung gegen das Gesetz außer einigen Gaffiti-tags noch auf der Straße erscheint oder vollständig von sibirischen Wetterumschwüngen verweht und eingefroren wird. Und wie die Jugendlichen schließlich auf ein mögliches Inkrafttreten reagieren werden. Kaum vorstellbar, dass die gesetzlich vor ihrem Verderben geschützen Kinder abends ausschließlich durch gut beheizte Wohnungen wandern werden.

Kulinarisches/Wildbahn

Literaturmarkt

Posted by Sascha Preiß on