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Irkutsk/Ulica

Was vom Feuer übrig blieb

Posted by Sascha Preiß on

In der Stadt brennen regelmäßig Gebäude. Irkutsk zählt zu den Städten mit weltweit höchstem Anteil an Holzarchitektur. Etwa 50% der Gebäude auf dem gesamten Stadtgebiet sind überwiegend aus Holz errichtet, der ursprünglich sehr dörfliche Charakter hat sich über die Jahrhunderte und trotz großem Stadtbrandes 1877 und stalinistischer Bauintensivierung weitgehend erhalten. Auch wenn bei moderneren Gebäuden die Außenfassade deutlich widerstandsfähiger wirkt, so ist doch der Gebäudekern nach wie vor hölzern und anfällig für große, kaum einzudämmende Brände. So auch vor wenigen Tagen am Zentralmarkt, ein mehrstöckiges Geschäftshaus brannte in der Mittagspause innerhalb kürzester Zeit vollständig aus, insgesamt 300 m2. Trotz der schnellen Ausbreitung des Feuers gelang glücklicherweise allen im Gebäude befindlichen Personen die Flucht ins Freie. Wegen der umfangreichen Löscharbeiten und polizeilichen Untersuchungen war der Verkehr rings um den Zentralmarkt bis in den Abend stark behindert. Die von der Brandzerstörung betroffenen Geschäfte – eine Anwaltskanzlei, eine Apotheke, ein Friseur, ein Immobilien- und ein Reisebüro – stellen einen Querschnitt der im Irkutsker Stadtzentrum verbreitetsten Geschäftsmodelle dar.

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– Ein typischer Brand?

– In vielerlei Hinsicht. Brände, auch in dieser Größenordnung, sind in sibirischen Städten keine Seltenheit.

– Weshalb die besondere Aufmerksamkeit auf diesen?

– Es wird untersucht, ob es ein Brandziel gab. Das kann Insolvenzvermeidung sein oder eine offen ausgetragene Rivalität unter Geschäftsleuten. Die betroffenen Geschäfte haben mit Abstand die meisten Konkurrenten in der Stadt. Es existieren inoffizielle Agenturen zur „Beilegung“ irgendwelcher Rivalitäten.

– Auftragsbrandstiftung? Das Feuer brach zu einem für die Mitarbeiter günstigen Zeitpunkt aus.

– Zu dieser Zeit sind die meisten Angestellten in den Verpflegungspunkten um den Markt zu finden. Solange es keine Beweise gibt, bleiben das glückliche Zufälle oder göttliche Fügung, je nach Standpunkt.

– Das Gebäude wird wohl abgerissen werden müssen und durch ein neues ersetzt. Wie groß ist die Versuchung, Hausbrände als Mittel zur Stadtplanung einzusetzen?

– Sie wären überrascht, wie einfach es ist, alte, platzraubende Holzhütten loszuwerden. Für viele Städte Sibiriens etwas Alltägliches.

– Empfinden Sie Löscharbeiten bei minus 15 Grad angenehmer als im Sommer?

– Die Brände sind einfacher zu handhaben, man kann mit Brandhemmern angereichertes Wasser verwenden, der Warmwetterschaum erzielt bei diesen Temperaturen keinerlei Wirkung. Und die Häuser sehen nachher vor lauter Eiszapfen festlich dekoriert aus. Das hält auf jeden Fall bis zum Neujahrsfest.

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Das Wetter/Ulica/Wildbahn

Tierlieb

Posted by Sascha Preiß on

Unter Einfluss strenger, anhaltender Kälte offenbart sich bei der sibirischen Bevölkerung die innige Beziehung zu Tieren. Das Halten von Haustieren ist sowieso verbreitet, das Halten von Straßentieren genießt allerdings ebenso hohes Ansehen. Schulkinder lernen schon frühzeitig das Anfertigen bunt bemalter Vogelhäuschen aus Schuhkartons, die rings um das Schulgebäude in die beschneiten Sträucher gehängt sind. Und Küchenabfälle in größeren Mengen auf den Abdeckungen von Wasserleitungen im Boden sind kein Auszeichen mangelnden Hygieneempfindens – man stellt Nahrungsmittel für die in der Stadtwildnis lebenden Tiere bereit. Weshalb immer wieder größere Tieransammlungen auf diesen Gullideckeln zu beobachten sind, welche zudem noch von unten Wärme spenden. Gelegentlich mögen diese Speisegeschenke bizarr anmuten, sie sind doch immer Ausdruck tief empfundener Tierliebe.

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Anti-Terror/Irkutsk/Russland

Kontraterror

Posted by Sascha Preiß on

Vom 11. bis 25. November sind in Irkutsk, erstmals in Russland, Kriegsaufnahmen des „Argumenty i Fakty“-Fotoreporters Vladimir Svartsevich unter dem Titel „Kontraterror“ zu sehen. Die Ausstellung versammelt die Aufnahmen aus Kriegseinsatzgebieten der russischen Armee im Kaukasus, von der südossetischen Interventionen 1991 bis hin zum Schulmassaker in Beslan 2004. Zur Eröffnung am 10.11. war fast ausschließlich Militär anwesend. Svartsevich ist ebenfalls ehemaliger Soldat, der lange Zeit im Kaukasus im EInsatz war. Aus dieser Zeit stammen seine Aufnahmen.

Die Bilder sind sowohl in ihren Motiven als auch in der Aufhängung verstörend. Zu sehen sind  auf einer Fotografie z.B. russische Soldaten, die nackt und fröhlich aus der Sauna kommen, während auf dem Bild daneben zu einem Fleischberg zusammengeworfene zerstückelte Leichen von „abgeknallten“ Terroristen liegen. Es ist für die Ausstellung unerheblich, ob sich beide Szenen im gleichen Jahr und Kriegsgebiet ereigneten oder weiter auseinander liegen. Die Ausstellung zielt in erster Linie auf den Schockeffekt beim Betrachter, offizielle Lesarten der kaukasischen Kriege grundsätzlich in Frage zu stellen. Jetzt, 9 Jahre nach dem offiziellen Ende des zweiten Tschetschenienkrieges und ein halbes nach Abzug eines Großteils der russischen Armee. Da die Fotos weder in chronologischer noch in sichtbar inhaltlicher Logik gehängt sind und außer Zeit, Ort und Titel keinerlei Angaben beigegeben wurden, bleiben nach dem Schock eine ganze Reihe von Fragen unbeantwortet. Etwa: Ob mit diesen Fotografien nun auch eine inhaltliche und sogar juristische Aufarbeitung der vergangenen Kriegsjahre eingeläutet ist.

Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf die offizielle Bezeichnung, mit der unter Putin immer wieder Kriegshandlungen in der Kaukasusregion rechtfertigt wurden. „Kontraterroristische Operationen“ würden durchgeführt, in Tschetschenien wie in Inguschetien und anderswo. Gezeigt wird, wie diese Anti-Terror-Einsätze tatsächlich aussahen: Soldaten in machistischer Pose und voller Erschöpfung, Söldner, Erniedrigung Gefangener. Es gibt keinerlei erläuternde Texte, welche die Sachverhalte und Umstände, unter denen die Bilder entstanden oder die Grundidee der Ausstellung beschreiben. Der Betrachter bleibt mit seiner Deutung allein. Ist „Kontraterror“ eigentlich Terror gegen den Terror, ist die russische Armee terroristisch? Offensichtliche Kritik am Vorgehen der russischen Armee im Kaukasus wechselt mit Fotografien, die durchaus auch als Werbung für diese Armee aufgefasst sein können. Dazwischen reich geschmückte Begräbniszeremonien für russische Gefallene und allgemeine Fotografien aus dem Alltag in den Kriegsgebieten, etwa ein Brotverkaufsstand vor Häuserruinen. Getötete tschetschenische Kämpfer werden hingegen auf den Bildtiteln durchgängig aus Terroristen bezeichnet, ohne Anführungszeichen und unabhängig davon, ob sie gerade von einem russischen Soldaten geplündert werden oder auf einer Mülldeponie abgeworfen wurden. „Keine mustergültigen Kriege“ titelt die Wochenzeitung „Argumenty i Fakty“, für die Svartsevich arbeitet und vermutet, dass die Ausstellung eigentlich den falschen Titel trägt, sie hätte besser „Gesichter des Krieges“ genannt werden sollen.

Eines der grausamsten Fotos, aufgenommen 1999 in Dagestan, zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges, zeigt drei tote Tschetschenen oder Dagestaner (Terroristen), die an ihren Füßen zusammengebunden und halbnackt von russischen Panzern entlang geschleift werden. „‚Säuberung‘ der Terroristen“ heißt das Bild. Während solche Aufnahmen etwa aus dem Irak zu veritablen Skandalen und dem einen oder anderen Gerichtsprozess führen, bleibt die öffentliche Reaktion hier vollständig aus. Das Gästebuch der Ausstellung aber ist voll mit Danksagungen für diese Bilder, welche erstmals offiziell in Russland zu sehen sind. Manche Kommentatoren halten den Fotografen deshalb auch für einen Volkshelden.

minimal stories/Sprache/Universität

Hölle (minimal story 8)

Posted by Sascha Preiß on

Wortspiele als Auszeichen eines liebevoll-intimen Verhältnisses zur Sprache sind in Russland sehr populär. Ob ein Buchladen „Лас Книгас“ heißt oder ein Saft „Индиана Джус“ – ein kleiner Kalauer darfs immer mal wieder sein. Und aus diesem Grund hatte ein wortspielender Student kurzerhand zwei Buchstaben vom Schild meiner Unibürotür geklaut. Die weißen Lettern sind auf die blaue Plaste nur aufgeklebt und wer möchte, nimmt sich in einem unbeobachteten Moment einen mit. Ursprünglich stand dort etwas vom „Лекторат ДААД“ zu lesen, jetzt ist es das „Lektorat HÖLLE“. Die Suche bzw Wiederbeschaffung der verlorenen Buchstaben wird nun ein längerer Weg durch die Administrationskatakomben der Universität bedeuten. Dennoch: Weil mich dieser Scherz durchaus zum Lachen brachte, weigere ich mich, darin irgendeine Kritik an meiner Arbeit zu erkennen.

Lektorat HÖLLE

Irkutsk/Russland

Tag der Einheit

Posted by Sascha Preiß on

 Der „Tag der Einheit des Volkes“ ist einer der jüngsten Feiertage in Russland, und um ihn zu popularisieren wird dazu ein umfangreiches nationales Volksfest zelebriert. Das schließt auch aufklärend positive Berichterstattung zu den Feierlichkeiten ein:

День народного единства отметили в Иркутске | Новости Irk.ru

Während das Bild im Artikel von Tanz und Heiterkeit und der Gouverneur des Irkutsker Oblasts von der Einheit der sibirischen Nationalitäten in Zeiten der Krise künden, denn in Krisenzeiten ist nichts so wichtig wie Folklore und nationale Erbauung, so spechen die letzten beiden Absätze die eigentliche nationalistische Kernidee des Feiertags aus: Neben Tanz und Gesang ist der traditionelle „Russische Marsch“ auch wieder veranstaltet worden (Plakate dazu waren in der Stadt angeklebt), auf dem so heitere Rufe wie „Ruhm und Ehre Russlands“, „Ruhm und Ehre dem russischen Imperium“ und „Ruhm und Ehre der Armee“ erklangen. Tief in der russischen Historie liege der Anlass für den modernen Feiertag, der einen verschütteten zaristischen Tag für die heutige Zeit wiederbelebt: Die Befreiung von der polnischen Besatzung 1612 wird gefeiert.

Die Kommentare lesen sich allerdings weniger begeistert, ein „dummer Feiertag“ sei es, Putin könne dem Land mehr oder weniger alles verordnen. Fragt man Studenten und Kollegen, ist häufig lautes Lachen über den 4. November zu hören. Dass sich in Russland die Feiertage jederzeit ändern könnten, sei die eigentliche Tradition.

Eine Datumssuche auf wikipedia.org zeigt für den 4.November u.a. folgenden Eintrag an: „1794: In der Schlacht von Warschau im Warschauer Vorort Praga schlagen russische Truppen den Kościuszko-Aufstand in Polen endgültig nieder. Nach der Schlacht kommt es zu einem Massaker an der Zivilbevölkerung. Der Aufstand bietet den Anlass zur endgültigen Liquidierung Polens 1795.“ Zwar handelt es sich um den 4.November des Gregorianischen Kalenders, der in Russland erst 1918 Einzug hielt, doch spricht dies dennoch von einem nicht zu übersehenden Zynismus des russischen Feiertags, der das russisch-polnische Verhältnis vollständig auf den Kopf stellt und national umwertet zugunsten eines Opfer-Helden-Mythos der russischen Seite.

Man kann sich nun überlegen, was dies über die politische russische Landschaft aussagt, auch im Zusammenhang mit der Aussage einer Kollegin, die interkulturelle Kommunikation unterrichtet, die sehr bestimmt sagte, dass die Russen ein besonders tolerantes Volk sind.

Interkultur/Liljana/Russland

Vater Mutter Kind

Posted by Sascha Preiß on

Seit knapp drei Wochen hilft uns Anna mit der Betreuung von Lili. Anna ist die Tochter einer Arbeitskollegin von Jenny, 25 Jahre alt und ihre Tochter Polina ist im September in die Schule gekommen. Anna ist selbst ausgebildete Lehrerin, kann Englisch und Spanisch unterrichten. Aber sie ist momentan arbeitslos. Nicht weil es wirklich so schwer wäre, eine Stelle als Lehrerin zu finden. Es werden zwar sehr wenige junge Lehrer eingestellt und die Zahl der Neueinschulungen in Russland sinkt nach wie vor. Lehrerin zu sein ist vor allem wegen des schlechten Gehalts nicht attraktiv. Etwa 8000 Rubel würde sie verdienen, keine 200 Euro. Als Njanja bekommt sie deutlich mehr. Kinderbetreuung macht ihr auch viel mehr Spaß als Englisch-Unterricht. Und Lili fühlt sich ganz wunderbar wohl bei ihr. Anna hat sich in den ersten beiden Wochen an unsere, für russische Verhältnisse sehr ruhige Wohnung (kein Fernsehgerät!) gewöhnen müssen. Wenn Lili im Tragetuch tief und weich auf ihrer kissengroßen Brust schläft, sitzt sie selbst auf dem Sofa und langweilt sich ein bisschen. Dann schaut sie auf ihr Handy oder telefoniert leise.

Einmal hat sie beim telefonieren geweint. Der Vater ihrer Tochter hat sie vor einiger Zeit verlassen, sie weiß nicht genau, wo er wohnt, aber sie hat über Bekannte so etwas Ähnliches wie Kontakt. Anna selbst ist das unwichtig, sie vermisst ihn nicht. Aber Polina ist namentlich ihr Leben lang an diesen Mann gebunden, sie trägt den Familiennamen ihrer Mutter, jedoch den Vatersnamen, den ihr ein Vater eingebracht hat, den sie nur wenig kennt. Ein Leben ohne Otchestvo ist für Russen schlechterdings unmöglich. Sollte ein Kind geboren werden ohne bekannten leiblichen Vater, wird für die offizielle Namensfestlegung des Kindes auf der Geburtsurkunde kurzerhand ein Vater erfunden, irgendein Michail Alexandrowitsch ist immer möglich. Die Mutter ist für amtliche Belange beinahe unwichtig.

Anna würde sich dafür eigentlich nicht interessieren, wenn nicht vom Vater abhinge, was die Tochter in der Schule tun und lassen darf. Ohne seine schriftliche Einwilligung kann sie z.B. nicht mit zur Klassenfahrt. Und dieses und andere Dokumente bekommt sie nicht von ihm, von Unterhaltszahlungen ganz zu schweigen. Wenn es ihn nicht interessiert, was mit seiner Tochter passiert, hat er alle Möglichkeiten, ihr das Leben zu erschweren. Sie als Mutter muss ihm hinterherrennen und stets aufs Neue um etwas bitten. Die Behörden verlangen die Einwilligung beider Elternteile, ungeachtet der Familiensituation. Normalerweise ließe sich so etwas per Gericht klären, aber das raubt Zeit, Geld und Kraft und verspricht wenig Hoffnung. Viele russische Väter kümmern sich nicht um ihre Töchter, sagte Anna. Aber sie beeinflussen ihr Leben so sehr, dass ihr manchmal die Tränen kommen.

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