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8 Articles

minimal stories/Ulica

minimal story 6

Posted by Sascha Preiß on

Es ist noch früh am Morgen, der Rush-Hour-Verkehr staut sich bereits beträchtlich. Der Arbeitstag der jungen Straßenbahnfahrerin ist schon einige Stunden alt. Auf dem Weg zum Bahnhofsvorplatz hat sie nun zwischen gedrängten Automobilen, Stadt- und Überlandbussen, Lastwagen und reichlich Fußgängern etwas Zeit, ihr Äußeres aufzufrischen. Während sie den Waggon im Schritttempo, mit einer Hand, aus den Augenwinkeln, zur Haltestelle fährt, trägt sie sorgfältig neue Wimperntusche auf. Der Lack auf ihren Fingernägeln glänzt in der Morgensonne.

Interkultur/minimal stories/Universität

minimal story 5

Posted by Sascha Preiß on

Die erkältete russische Kollegin trinkt mit ihrem erkälteten deutschen Kollegen einen Bio-Kräutertee im Beutel, den er aus einer deutschen Apotheke mitbrachte.  Nach wenigen Schlucken hat sie die wesentlichen Teekräuter am Geschmack erkannt, wohingegen er die Zusammensetzung von der Packungsangabe erfährt. Kräutertee kauft hier eigentlich niemand, sagt sie, wir pflücken uns die Sachen im Sommer und machen die Tees alle selber. Er wüsste nicht einmal zu sagen, wie z.B. Süßholz oder blühender Fenchel genau aussieht.

Anti-Terror/Das Wetter

Diese Nacht

Posted by Sascha Preiß on

Es ist ein Nebelstreif in der Stadt.
Die Temperatur kaum über Null.
Das offene Fenster zur Straße.
Kaum ein Mensch, der so spät durch die Nacht reitet.
Wind säuselt in dürren Blättern. Gespensterjagd.

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Die Stadt hat währenddessen ein chinesisches Untergrundkasino geschlossen. Das ist illegal, weil es ein Kasino ist (die sind seit 01.07. alle geschlossen worden, um die Verarmung der Bevölkerung zu stoppen) und weil es chinesisch ist (Chinesen werden diesen Sommer bevorzugt ausgewiesen). Und das ist offenbar eine Nachricht wert.
Alles voller Erlkönige. Die Gespenster sind unter uns.

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Anti-Terror/Das Wetter

und es ward Winter

Posted by Sascha Preiß on

Meteorologisch hat der Tag gehalten, was versprochen war. Zum Beispiel ein schöner Herbststurm am Nachmittag.

Und für den Abend: Schnee. Als er fiel, war der Herbst vorbei. Nun ist Pünktlichkeit normalerweise keine traditionell russische Eigenschaft. Ausnahmen sind aber zugelassen. Umso erfreulicher, als tatsächlich wie im Hausflur angekündigt die Heizungen 19 Uhr zu „arbeiten“ begannen. Während draußen der erste Schnee „ging“, knackten sich drinnen die Rohre warm. Ab sofort kann man wieder barfuß, leicht bekleidet durch die Wohnung wandern und die staubtrockene Raumluft genießen.

Für die Parlamentarier des Oblastes war der meteorologische Tagesverlauf vermutlich ebenso erfreulich, wehten doch Sturm und Schnee die angekündigte Demonstration gegen die drohende „Ausgangssperre“ vom Kirowplatz. Bei dieser Anordnung handelt es sich um den Versuch der Gebietsregierung, per Gesetz gegen die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch Alkohol, Drogen und Pornographie vorzugehen. Die Kernidee ist die Verbannung der als gefährdet betrachteten Bevölkerungsgruppe von den Straßen zwischen 22.00 und 6.00 Uhr. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass Kinder und Jugendliche während der Nachtstunden sich nur in Begleitung ihrer Eltern auf öffentlichen Plätzen aufhalten dürfen, zudem soll ihnen der Eintritt in Geschäfte, in denen Alkohol angeboten wird, z.B. Restaurants und Bars, und Geschäfte, in denen es Waren „mit sexuellem Charakter“ zu kaufen gibt, verboten sein. Bislang ist das Gesetz als Bestandteil des allgemeinen Gesetzesvorhabens „Über die geistige und gemütsmäßige Entwicklung der Kinder im Irkutsker Oblast“ noch nicht verabschiedet, allerdings im Parlament ausgiebig besprochen worden. Unklar scheint weniger, ob die Ausgangssperre kommt, sondern lediglich das wann und wie. Fraglich auch, ob der Protest der Bevölkerung gegen das Gesetz außer einigen Gaffiti-tags noch auf der Straße erscheint oder vollständig von sibirischen Wetterumschwüngen verweht und eingefroren wird. Und wie die Jugendlichen schließlich auf ein mögliches Inkrafttreten reagieren werden. Kaum vorstellbar, dass die gesetzlich vor ihrem Verderben geschützen Kinder abends ausschließlich durch gut beheizte Wohnungen wandern werden.

Kulinarisches/Wildbahn

Literaturmarkt

Posted by Sascha Preiß on
Anti-Terror/Universität/Unter Deutschen

Immunität

Posted by Sascha Preiß on

Eines schönen Junitages, erzählte meine Kollegin, als sie neulich bei uns zu Besuch war, erhielt sie auf ihrem Mobiltelefon einen Anruf:

Schönen guten Tag, Frau R., sagte eine Frauenstimme, hier ist das Generalkonsulat Nowosibirsk. Sie arbeiten doch in Ulan-Ude. – Ja. – Und Sie sind auch gerade dort. – Ja. – Und sie wissen doch, wie lange der Zug von Nowosibirsk nach Ulan-Ude fährt. – Ja, das weiß ich, 40 Stunden. – Aha, ja. Und Sie wissen auch, dass man nicht so ohne weiteres mit dem Flugzeug von hier nach Ulan-Ude kommt, weil es keine Direktflüge gibt. – Ja, auch das weiß ich in der Tat. – Ja, sehen Sie. Das deutsche Außenministerium hat nämlich 2 für den Einsatz in Afghanistan bestimmte Hubschrauber gekauft. – So. – Und die sind nun fertig für den Transport und stehen auf dem Gelände der Hubschrauberfabrik in Ulan-Ude. – Schön. – Und da Sie die Schwierigkeiten bei der Anreise kennen und bereits vor Ort sind, wollte ich Sie fragen, ob Sie in unserem Auftrag diese beiden Hubschrauber besichtigen und fotografieren könnten. – Sie glauben, dass ich einfach so auf das Gelände komme und Fotos machen darf? – Sie erhalten von uns ein offizielles Schreiben mit Erlaubnis und Stempel etc, Sie tun uns einen großen Gefallen. – Das möchte ich mir aber noch in aller Ruhe überlegen.

Damit war das Gespräch beendet und meine Kollegin überlegte. Dass sie als Ausländerin trotz Brief und Siegel wohl nicht einfach so auf das Gelände einer russischen Fabrik für Militärtechnik gelassen wird. Und falls doch, dass das Fotografieren auf diesem Gelände für irgendeinen Mitarbeiter des Geheimdienstes wohl durchaus verdächtig erscheinen könnte. Dass dies ausreicht, um des Landes verwiesen zu werden. Dass sie ein Kind erwartet, dass ihr Mann hier lebt, dass sie mit ihrer Familie in Russland leben möchte und dass sie eine Arbeitserlaubnis für die Universität beantragt hat, wofür es insgesamt von Vorteil wäre, frei vom Verdacht der internationalen Militärspionage zu sein. Tags darauf klingelte erneut das Telefon.

Schönen guten Tag, Frau R., sagte eine andere Stimme, hier ist das Auswärtige Amt in Berlin, vielen herzlichen Dank, dass Sie die beiden Hubschrauber begutachten möchten, das erspart uns viel Arbeit. – Einen Augenblick, aber ich möchte das gar nicht. – Warum denn nicht, Sie erhalten doch von uns offizielle Papiere. – Das mag wohl sein, aber: Meine Kollegin erklärte ihre Bedenken. – Aber welchen Repressionen können Sie denn ausgesetzt sein, Sie genießen doch Immunität! – Nein, das tue ich nicht, ich bin eine normale Mitarbeiterin an der Universität und besitze einen normalen deutschen Pass. – Aber in Afghanistan genießen alle von Deutschland Entsandten Immunität. – Wir sind aber in Russland und ich bin nicht entsandt. – Sie könnten in der Moskauer Botschaft die Immunität beantragen! – Sie könnten einen immunen Mitarbeiter entsenden, der sich die millionenteuren Hubschrauber anschaut, das kostet auf dem Luftweg von Berlin 600 Euro.

Meine Kollegin hatte dann leider das Interesse an der Sache verloren und wusste nicht zu sagen, wie es mit den zwei in Burjatien wartenden Hubschraubern weitergegangen ist. Die Anti-Terror-Verteidigung Deutschlands am Hindukush scheint ihr nicht so wichtig zu sein. Ich selbst bin jedenfalls froh, dass die deutsche Armee dort bislang keine Flugzeuge benötigt, die irgendwann abstürzen könnten und in Russland nachbestellt werden müssten. Das zu Afghanistan nächstgelegene Militärflugzeugwerk befindet sich nämlich in Irkutsk. Und irgendein Außenamtsmitarbeiter hätte dann sicher wieder keine Lust, sich selbst ein Bild vom Stand der Dinge zu machen und würde vielleicht mich anrufen. Ich müsste dann aber ebenfalls absagen – schließlich habe ich schon einmal den Militärdienst verweigert.

Liljana/selbst

Sowjetische Kopeken

Posted by Sascha Preiß on

10 Tage dauerte die Baby-Massage, die eine erfahrene und redselige Kinderärztin mit unserem Töchterchen durchführte. Das war uns von einer Freundin empfohlen worden und gehört offensichtlich zum Standard in einer guten russischen Kinderstube, um die Muskulatur der Neugeborenen aufzubauen. Lili mochte das ganz gern, auch wenn sie dabei sehr hungrig wurde und das unüberhörbar deutlich machte. Am letzten Tag drückte uns die etwa 60jährige Masseuse ein sowjetisches 5-Kopeken-Stück in die Hand, das sollen wir mit Pflaster auf Lilis etwas hervorstechenden Bauchnabel kleben, dann bilde er sich schnell zurück. Mit der gleich großen russischen 5-Rubel-Münze funktioniere das nicht, nur mit den sowjetischen Kopeken. Die Ärztin nickte bestätigend gegen unsere Skepsis an und streifte ihre Jacke über. Und wenn wir wieder zur Untersuchung in die Kinderklinik gehen, müssen wir es unbedingt abmachen, die Ärzte dort mögen das nicht so, es ist halt alter Aberglaube. Zwinkernd ging sie zur nächsten Massage.

Irkutsk/minimal stories/Wildbahn

minimal story 4

Posted by Sascha Preiß on

Am Zentralmarkt kaut die Hündin einen Knochen. Sie liegt zwischen geparkten Autos, hinter dem niedrigen Zaun, der Marktgelände und Parkplatz trennt. Als sie den Knochen weitgehend von Fleischresten befreit hat, erhebt sie sich, läuft unter dem Zaun hindurch, an den Passanten vorbei, in Richtung Marktgebäude. Ihr Fell ist straßenschmutzig, etwas verklebt, ihre Zitzen hängen schlaff, leer am Bauch, die Welpen dieses Frühjahres sind bereits irgendwohin entlaufen. Neben dem Eingang zum Gebäude des Zentralmarkts steht ein Karton mit essbaren Abfällen, darin verschwindet die Fähe kurz und kommt mit einem weiteren Knochen im Maul heraus, läuft leichtfüßig, elegant zu ihrem Fressplatz zurück. In ausgiebiger Ruhe, die ihr ganz allein gehört, widmet sie sich der Malzeit.