Die Erfindung der Tradition
Als Kulturmittler im Ausland ist es manchmal gar nicht einfach, unter Zeitdruck auf Kultur zurückzugreifen, die man zum gegebenen Anlass vermitteln könnte. Die Klassiker sind schnell getan: Nach wenigen Semestern wissen die Studenten quasi alles zum Mauerauf- und -abbau, können original bayrische Lederhosen selber schneidern, zählen alle norddeutschen Biersorten perfekt im holsteiner Dialekt auf und bereiten gerade rheinischen Karneval in der Stadt vor. Lediglich Thomas Mann und Heinrich Heine haben sich in die kleine Veröffentlichung zur deutschen Lyrik des 20. Jahrhundert eingeschlichen, aber das kriegen wir noch hin. So in etwa.
Und dann wird man plötzlich zum Geburtstag eingeladen. Von der Lehrstuhlleiterin. 50. Geburtstag. Alle Kollegen feiern mit. Als ausländischer Gast bei einem russischen Geburtstag. Unbedingt. In der Uni natürlich. Auf der Arbeit kennen sich alle und zu hause ist es für 30 Leute einfach zu eng. Arbeit und Privatleben haben hier fließende Grenzen. Der Raum, in dem man sonst unterrichtet, ist festlich mit Luftballons geschmückt, ein enomer Tisch mit Salaten, Fleisch, Käse, Obst steht bereit, naja und Getränke sowieso, das ist immerhin Russland. Heimlich mit anderen Kollegen vom Lehrstuhl hat man ein kleines Szenenspiel vorbereitet: Ein Text aus dem Internet, griechische Gottheiten erweisen der Jubilantin scherzhaft die Ehre, die eigene Rolle ist nachvollziehbarer Gründe wegen von „Hermes“ zu „Gott mit deutschem Akzent“ umgetauft worden. Die Feier, mit ein bisschen Verzögerung, beginnt. Eine Reihe von Reden mit einer Reihe von Trinkanlässen, dazwischen Essen, als Geschenke werden Lieder gesungen und ausufernd blumig das Geburtstagskind gewürdigt. Und weil sich die Reihe der Gratulanten stetig lichtet und man durchaus auch mit Wodka auf Wohl und Gesundheit anstößt, überlegt man also, seinen Teil recht bald über die Bühne zu bringen. Nach dem Vortrag des Szenenspiels. Man hat sich vorbereitet, irgendwie jedenfalls. Man hat sich angesichts eines so schönen, runden Geburtstags seine Geschenkgedanken gemacht. Und hat festgestellt, man hat nichts, was der Situation angemessen wäre. Die Lehrstuhlleiterin kennt man noch nicht so gut. Bücher schenken sich die russischen Kollegen untereinander so gut wie nie, und ein passables deutsches Buch – etwa einen unterhaltsamen zeitgenössischen Roman oder ein hübscher Bildband – ist 7000 km weit weg sowieso nicht greifbar. Geschenke im materiellen Sinn macht man in Russland offenbar überhaupt nicht sehr oft, viel beliebter und persönlicher sind selbstgemachte Sachen, Lieder, das vorbereitete Szenenspiel, eine humorvolle Bildergeschichte über das Leben der Jubilantin von einer Kollegin präsentiert. Einfach etwas kaufen? Ungeschickt, vielleicht unhöflich. Blumen wären auf jeden Fall in Ordnung, aber allein nicht ausreichend, der klassische Pralinenkasten wirkt immer einfallslos. Was tun? Man sieht das Dilemma und sucht einen Weg, zwischen deutscher und russischer Kultur zu vermitteln: etwas Selbstgemachtes soll es sein, das von Deutschland kündet. Einen Fotoband mit eigenen Fotos selbst herstellen. Zu materiell, zu buchlastig. Ein spaßhaftes Gedicht schreiben und vor allen rezitieren. Sensationell peinlich. Einen Kuchen backen. Zu gewöhnlich. – Doch, das geht. Kuchen ist auf russischen Feiern unverzichtbar. Und ein deutsch-russischer Zupfkuchen klingt nach was. Angesichts des limitierten Haushalts wird schließlich aus dem schönen großen Kuchen, der einem vorschwebt, nur ein kleiner Gugelhupf, dem auch noch seine Schokoglasur misslingt. Doch man entschließt sich, die Arbeit sei nicht umsonst getan, nimmt Blumen und Kuchen und fühlt sich nicht mit leeren Händen. Und in einem passenden Augenblick, in einer unbeobachteten Minute der Geburtstagsfeier, überreicht man unauffällig das kleine Präsent. Und weil man ja der Gast aus Deutschland ist, schauen alle zu und wollen wissen, was es ist. Und weil einem das trockene kleine Stück Geburtstagskuchen, das als Verzierung ein paar Smarties bekommen hat, selbst etwas fremd vorkommt, besinnt man sich auf seine Eigenschaft als Kulturmittler. Bloß nichts entschuldigen, selbstbewusst schenken. Also erfindet man kurzerhand eine uralte deutsche Tradition: Den kahlen Geburtstagsgugelhupf. Den schenkt man so in Deutschland, sagt man, und: Herzlichen Glückwunsch. Die Lehrstuhlleiterin schaut sehr dankbar und überaus höflich. Dieser Blick ist verschwörerisch und lautet: Diese Tradition kenne ich ja gar nicht. Aber weil Skepsis auf Geburtstagsfeiern nichts verloren hat, sind nach wenigen bekräftigenden Worten alle Anwesenden, die Lehrstuhlleiterin, die Kollegen und man selbst, mit dieser deutschen Tradition einverstanden. Das kostet einen Wodka und später singt man sogar noch ein deutschsprachiges Lied und damit ist die frisch erfundene, uralte deutsche Geburtstagstradition fürs erste glücklich vergessen. Jetzt darf nur niemand vom Lehrstuhl in nächster Zeit 50 werden. Ich hab nämlich auf dem Heimweg das Kuchenrezept vergessen.